Was brauchen Kinder, wenn Eltern, Geschwister, Großeltern erkrankt sind? 2. Reden oder Schweigen?

Wenn Familienangehörige schwer oder dauerhaft erkrankt sind, neigen viele Erwachsene dazu, mit ihren Kindern darüber nicht zu reden. Meist wollen sie die Kinder nicht beschweren und ihnen Kummer ersparen. Manchmal fehlen ihnen die Worte. Oft sind sie auch selbst zu belastet, um sich den Kindern zu widmen. Sehr häufig haben auch Vater und Mutter verschiedene Ansichten dazu, ob und wie einem Kind zum Beispiel von einer seelischen Erkrankung oder der Demenz der Großeltern erzählt werden kann. Auch in Kitas und Schulen sind Krankheiten nur selten Thema und einer Nachfrage wert. Die Scheu, das Privatleben öffentlich zu machen, oder auch die Scheu vor der Erkrankung selbst ist groß.

Wir empfehlen, unbedingt mit Kindern über solche Erkrankungen zu reden. Selbstverständlich altersgemäß und möglichst, ohne ihnen Angst zu machen, aber offen zu sein und Worte zu finden.

Warum?

Erstens bekommen Kinder alles mit. Wenn eine Person in einer Familie schwer erkrankt ist, spüren das die Kinder. So, wie Kinder manchmal früher als die Eltern mitbekommen, dass eine Trennung ansteht, so erahnen sie zumindest, dass „etwas nicht stimmt“, dass eine Krankheit „in der Luft liegen“ kann. Das Verschweigen ist also häufig vergeblich.

Zweitens gehen Kinder durch das Verschweigen von Erkrankungen oft ins Leere. Wenn sie ahnen, dass da „etwas ist“, aber nicht darüber geredet wird und sie keine Informationen bekommen, können sie nicht verstehen, was los ist. Sie wissen dann auch nicht, sich gegenüber der Krankheit bzw. der erkrankten Person angemessen zu verhalten. Wenn Menschen, die Kinder gerne haben und lieben, Kummer haben, versuchen Kinder, den Kummer zu beseitigen. Sie strengen sich an. Doch eine Krankheit zu beseitigen, übersteigt die Fähigkeiten von Kindern. Also fühlen sie sich sehr oft schuldig. Darüber reden selten, aber das fühlen sie fast immer. Das Bemühen um Anstrengung wird immer stärker, je vergeblicher es ist. Ins Leere zu gehen ist eine Erfahrung, unter der Menschen und vor allem Kinder häufig leiden. Das, was sich in der Leere verbirgt, wird dann wie ein schwarzes Loch im Weltall. Es zieht die Energie an. Die Kinder wenden noch mehr Aufmerksamkeit und Energie dorthin, ohne Erfolg. Diese Erfahrungen mit Leere, vor allem, wenn sie über einen längeren Zeitraum andauern, sollten Erwachsene den Kindern ersparen.

Bei vielen Erkrankungen machen Kinder drittens doppelbödige Erfahrungen. Auf der einen Seite sind sie beteiligt und wissen, dass da jemand krank ist. Auf der anderen Seite erfahren sie aber nichts über die Schwere der Erkrankung und tappen im Dunklen. Ein elfjähriges Mädchen erzählte einmal: „Ich habe immer für den Papa die kleinen Flaschen mit Schnaps drin am Kiosk geholt, aber ich durfte nie darüber reden. Ich wusste nicht, wozu die da waren, außer dass er dann komisch sprach und nicht mehr aufstand.“ Andere Kinder holen Medikamente oder bekommen Pflegetätigkeiten mit oder nehmen einfach wahr, dass die erkrankte Person bettlägerig ist oder nicht mehr so viel unternehmen kann wie vorher. Also, es gibt oft Anzeichen. Eine Krankheit völlig zu verbergen, ist vor Kindern selten möglich. Umso wichtiger ist, mit den Kindern zu reden und diese Anzeichen auch zu erklären, damit sie sie einordnen können und ihnen nicht hilflos gegenüberstehen.

Viertens sind Erwachsene Vorbilder. Wenn Erkrankungen oder andere Nöte verschwiegen werden, lernen die Kinder von den Erwachsenen, dass man über Probleme nicht redet, dass man Not mit anderen Menschen nicht teilt, sondern Schwierigkeiten nur allein mit sich selbst ausmacht. Davon lernen Kinder. Manche werden dann so und folgen diesem Vorbild.

Diese vier und noch mehr Gründe sprechen eindeutig dafür, mit Kindern über anhaltende und schwere Erkrankungen zu sprechen. Wenn Eltern oder andere Erwachsene in der Familie das nicht können, sollten sie gemeinsam überlegen, wie ihnen dies am besten gelingen kann. Wenn sie zu unsicher sind, können sie in Beratungsstellen Hilfe suchen und erhalten.

Wenn mit Kindern über solche Erkrankungen geredet wird, sollte immer an den Erfahrungen der Kinder selbst angeknüpft werden. „Du hast doch auch schon einmal zwei Wochen lang Bauchschmerzen gehabt. Da ging es dir auch schlecht. Da haben wir alle versucht zu helfen, waren beim Arzt und haben Medikamente geholt. Und du hattest zwischendurch auch gedacht, dass das nie mehr aufhört. Und dann wurde es wieder besser und dann auch wieder gut.“ Bei älteren Kindern kann über die Krankheit genauer informiert werden.

Bei chronischen Erkrankungen ist es ebenfalls wichtig, dass darüber gesprochen wird. Auch hier gilt es, den Kindern mitzuteilen, dass eine dauerhafte Beschränkung vorliegt UND dass es Möglichkeiten gibt und dass alle gemeinsam versuchen werden, jeden Tag so gut es geht, mit so viel Glück wie möglich zu leben.

Kinder fragen auch konsequent. Nicht alle, aber viele. Zum Beispiel: „Wird die Mama sterben?“ Hier sollten Erwachsene sich ebenfalls, sich vor den Fragen nicht zurückzuziehen, sondern möglichst offen darüber zu reden. Zum Beispiel: „Wir alle müssen irgendwann sterben. Wir hoffen alle, dass das noch möglichst lange dauert und wir möglichst lange gut leben können. Wir hoffen alle, dass die Mama wieder gesund wird, und wir tun alles dafür.“ Wenn ein Sterbeprozess aufgrund einer schweren Erkrankung innerhalb einer Familie ansteht, ist es notwendig, gemeinsam zu trauern, zu weinen, sich zu umarmen und zu versuchen, sich zu trösten. Auch hier sollten Kinder beteiligt werden, so gut es in ihrem Alter möglich ist. Und wie immer sollten sie immer wieder erfahren, dass die anderen Mitglieder der Familie sie lieben und bei ihnen bleiben.

Udo Baer

Dr. phil. (Gesundheitswissenschaften), Diplom-Pädagoge, Kreativer Leibtherapeut AKL, Mitbegründer und Wissenschaftlicher Berater der Zukunftswerkstatt therapie kreativ, Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für soziale Innovationen (ISI) sowie des Instituts für Gerontopsychiatrie (IGP), Vorsitzender der Stiftung Würde, Mitinhaber des Pädagogischen Instituts Berlin (PIB), Autor

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