Die geheime Ausbildung aller Menschen, die Kinder erziehen

Von Udo Baer

Ganz gleich, ob Sie Eltern sind oder Fachkräfte, Sie haben eine Ausbildung hinter sich: Sie waren selbst Kind und Jugendliche. Diese Erfahrungen, die jeder Erwachsene als Kind oder Jugendliche gemacht hat, werden zu wenig gesehen und erst recht nicht gewürdigt. Sie sind ein geheimer Schatz. Wie kann dieser Schatz gehoben und genutzt werden? Indem wir Erwachsenen uns Fragen stellen und mit unserer Kindheit beschäftigen. Ich werde die wichtigsten Fragen, die mir begegnet sind, im Folgenden vorstellen und beispielhaft einige Antworten anführen.

Was hat mich unterstützt in meiner Kindheit? Welche Menschen fallen mir dabei ein, welche Taten, welche Situationen?

Vielleicht fällt Ihnen der Opa ein, der einfach lieb war, oder die Mutter, die geduldig mit Ihnen Hausaufgaben gemacht hat, vielleicht auch die Großmutter, bei der es zwar strenge Regeln gab, aber bei der Sie immer wussten, woran Sie sind.

Was hat Ihnen geschadet?

Vielleicht sind Sie geschlagen worden oder manchmal allein gelassen worden. Möglicherweise gab es Atmosphären in Ihrer Familie oder der Umgebung, die für Sie giftig waren. Eventuell haben Sie sich zeitweilig gelangweilt oder fühlten sich allein. Oder es gab Ortswechsel, Umzüge, Verluste von nahestehenden Personen, die Sie nicht betrauern konnten.

Wenn Sie diesen beiden Fragen nachgehen, erhalten Sie sicherlich schon Hinweise dafür, was Sie mit den Kindern, die Sie begleiten, vermeiden sollten und was vielleicht für die Kinder förderlich sein kann. Dann können Sie sich weiter fragen:

Wie war es im Kindergarten oder in Ihrer Kindergartenzeit? Wer war für Sie wichtig? Was haben Sie dort gern gemacht?

Oder:

Von wem haben Sie in der Schule gelernt? Wen haben Sie als Autorität akzeptiert? Wer hat Ihnen geholfen, lernen zu lernen?

Auch hier werden Sie etliche Hinweise erhalten, die Sie in Ihrer Elternzeit oder Ihrer anderen pädagogischen oder erzieherischen Tätigkeit unterstützend einbringen können. Ergänzen Sie die Frage nach den positiven Erfahrungen mit der nach dem, was für Sie negativ war:

Wer oder was hat mich in der Schule angeödet? Was hat mich verletzt? Was hat mir das Lernen verleidet, meine Neugier und mein Interesse erstickt? Welche Personen waren für mich giftig? Wodurch?

Wenn Sie Probleme mit einem konkreten Kind haben, dann überlegen Sie sich, wie es Ihnen erging, als Sie so alt waren, wie das Kind jetzt ist.

Wie war ich damals drauf? Was habe ich gedacht, gefühlt, wie habe ich mich verhalten?

Eine Mutter erzählt:

„Mein Sohn ist 12 Jahre alt und ich komme nicht mehr richtig an ihn heran. Er ist nur noch bockig, wenn ich ihn was frage oder mit ihm etwas bereden will. Dann habe ich mich gefragt, wie ich denn mit 12 war. Zu meinem Erschrecken fiel mir ein, dass ich genauso bockig war. Ich wollte oft nur einfach in Ruhe gelassen werden und selber bestimmen können, worüber ich rede und mit wem. Ich habe das dann meinem Sohn gesagt, dass es mir ähnlich so ging wie ihm, dass ihn auch gern mehr in Ruhe lassen möchte und er jederzeit aber mit mir reden kann, wenn er das möchte.

Und dann fiel mir ein, was ich gerne damals mit meiner Mutter gemacht habe. Ich lernte von ihr zu nähen. Das war toll. Da brauchten wir nicht zu reden. Manchmal entstanden da so nebenbei ganz gute Gespräche. Das Wichtigste war dabei, dass wir etwas gemeinsam gemacht haben. Und das habe ich dann auch mit meinem Sohn probiert. Der stand natürlich nicht aufs Nähen, aber er war total neugierig auf …“

Ein Lehrer erzählt aus seiner eigenen Schulzeit:

„Wenn ich an meine Schulzeit zurückdenke, fällt mir vieles ein. Wir hatten einen Religionslehrer. Der war gut. Er hat mich gesehen und mich gefördert. Er hat meine Interessen gesehen und mir Bücher empfohlen. Von dem habe ich viel gelernt, obwohl ich mit der Religion selber nicht viel am Hut hatte. Was mich immer auf die Palme gebracht hat, waren Ungerechtigkeiten, wenn Lehrer einfach ihren Stiefel durchzogen und ungerecht waren oder einige Schüler bevorzugt haben und andere wieder bestraft haben. Das ging gar nicht. Da habe ich mich ganz unwohl gefühlt und konnte manchmal nachts vor Verwirrung nicht schlafen. Seit mir das und Anderes bewusst geworden ist, versuche ich mehr zu schauen, was die Stärken der einzelnen Schüler*innen sind. Wir haben auch lange darüber geredet, wie wir mit Ungerechtigkeiten umgehen, die immer mal passieren könnten, welche Regeln sinnvoll sind, damit jeder gerecht behandelt wird, die Schüler und Schülerinnen, aber auch wir Lehrer und Lehrerinnen. Das hat zwar nicht alle Probleme gelöst, aber die Kinder haben sich ernst genommen gefühlt und das war auch ernst gemeint.“

Wichtig ist der Blick zurück, um besser den Blick nach vorne leisten zu können und besser nach vorne schauen zu können. In den Erfahrungen als Kind, die wir als Erwachsene gemacht haben, stecken Schätze, die es verdienen, geborgen zu werden.

Udo Baer

Dr. phil. (Gesundheitswissenschaften), Diplom-Pädagoge, Kreativer Leibtherapeut AKL, Mitbegründer und Wissenschaftlicher Berater der Zukunftswerkstatt therapie kreativ, Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für soziale Innovationen (ISI) sowie des Instituts für Gerontopsychiatrie (IGP), Vorsitzender der Stiftung Würde, Mitinhaber des Pädagogischen Instituts Berlin (PIB), Autor

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