Was brauchen Kinder, wenn Eltern, Geschwister, Großeltern erkrankt sind? 1. Welche Auswirkungen haben Erkrankungen auf die Familie?

Alle Krankheiten verändern Familien, zumindest solche, die länger als eine kurze Zeit anhalten. Vor allem schwere, lebensbedrohliche sowie chronische Erkrankungen haben massive Auswirkungen, auf die Familie und insbesondere auf die Kinder.

Familien sind nicht nur soziale Gruppen, in denen Menschen ihren Alltag teilen und Nähe bzw. Liebe leben, sie sind auch Notgemeinschaften. Auch zwischen Familienmitgliedern, die wenig Kontakt haben oder zwischen denen wenig Vertrautheit oder Nähe existiert, gibt es in Notfällen, vor allem wenn eine Person krank ist, eine Trennung ansteht oder eine existentiell wirtschaftliche Bedrohung vorhanden ist, gegenseitige Unterstützung. Plötzlich ruft man sich an, fragt, ob man etwas tun kann, bietet Hilfen an, zeigt Mitgefühl. Familien sind Notgemeinschaften, nicht nur, aber auch. Und ein Faktor der Not besteht in einer ernsthaften Erkrankung eines Familienmitglieds. Dies erfahren auch die Kinder in der Familie, ohne dass man es ihnen erklären muss. Wenn Notgemeinschaften funktionieren, wird dies für Kinder eine selbstverständliche Erfahrung und somit ein Lernprozess für ihr ganzes Leben.

Wenn die Familie als Notgemeinschaft nicht mehr funktioniert, ist ihr Zusammenhalt brüchig oder zerborsten.[1] Die Teilnehmer mancher kleinen sozialen Gruppen sind miteinander verwandt oder juristisch gebunden, also offiziell und manchmal auch in ihrem Selbstverständnis eine Familie, aber es existiert kein familiärer Zusammenhalt mehr. Die Familien sind zerfallen. Oft ist dies offensichtlich: Man lebt nicht mehr zusammen, die Kommunikation ist durch Konflikte geprägt. Doch manchmal sind Familien zerfallen auch, wenn die Fassade einer Familie noch existiert. Wenn die schwere Erkrankung eines Familienmitglieds oder ein anderer Notfall anderen Familienmitgliedern „egal“ ist und sie nicht unterstützend darauf reagieren, ist dies ein Zeichen für eine zerbrochene Familienstruktur.

Für Kinder hat dies Auswirkungen. Die Selbstverständlichkeit des Mitgefühls und der gegenseitigen Fürsorge wird nicht mehr vorgelebt. Stattdessen erfahren sie Rückzug und Feindseligkeit als Normalität. Das kann die Fähigkeit der Kinder und Jugendlichen, vertrauensvolle Bindungen aufzubauen und einzugehen, beeinträchtigen.

Manche Familien, die gefährdet sind, auseinander zu fallen, reagieren auf chronische Erkrankungen damit, dass sich alle Familienmitglieder in einer Burg zurückziehen oder aber die machtvollsten Familienmitglieder dies von allen erwarten. Dann werden die Zugbrücken hochgezogen. Es wird über die Erkrankung nicht geredet und erst recht nicht Hilfe von außen gesucht. Die Außenwelt wird als feindselig bezeichnet. Die Krankheit wird tabuisiert und verschwiegen. Dies ist vor allem bei psychischen Erkrankungen, Alkoholismus oder auch körperlichen Erkrankungen der Fall, die keinen „guten Ruf“ haben, manchmal auch zum Beispiel bei Krebserkrankungen. Auch dies hat Auswirkungen auf die Kinder. Viele fühlen sich eingesperrt. Ihre sozialen Kontakte werden eingeschränkt und mit Sprechverboten gegenüber „Außenstehenden“ belegt. Die Fähigkeit zur offenen sozialen Beziehung ist zumindest eingeschränkt und gestört.

Eine sehr häufige Auswirkung einer ernsthaften bzw. chronischen Erkrankung eines Familienmitglieds besteht in der Konkurrenz um Aufmerksamkeit. Die erkrankte Person braucht notwendigerweise mehr Aufmerksamkeit als zuvor. Man muss Medikamente besorgen, sie pflegerisch versorgen. Sie braucht liebevolle Zuwendung. Andere erkundigen sich ständig, wie es der erkrankten Person geht usw. Diese Aufmerksamkeit wird real oder zumindest in den Augen mancher Kinder ihnen weggenommen. Die Eltern, Geschwister oder Großeltern haben weniger Zeit und Energie, sich so um die Kinder zu kümmern, wie diese es wünschen. Es ist wichtig, dass den Erwachsenen diese Konkurrenz um Aufmerksamkeit bekannt ist. Sie sollten sie auch den Kindern gegenüber ansprechen: „Der Opa braucht jetzt mehr Unterstützung. Damit habe ich ein bisschen weniger Zeit für dich als vorher. Ich liebe dich genauso wie immer. Es wird auch wieder anders, wenn der Opa wieder gesund ist.“ Die Worte und Erklärungen wenden sich natürlich nach der jeweiligen Person und vor allem nach dem Alter der Kinder. Es ist sinnvoll, dass mit den nicht erkrankten Kindern zu festen Zeiten gespielt, geredet oder etwas unternommen wird. Diese Zeiten brauchen nicht sehr umfangreich sein, weil bei einer Erkrankung eines Familienmitglieds Zeit ein knappes Gut werden kann und oft wird. Doch wenn solche „Kinderzeiten“ kurz, aber regelmäßig und verbindlich gelebt werden, dann hilft das den Kindern. Es stärkt sie und lässt sie auf die Konkurrenz um Aufmerksamkeit nicht mit Angst vor Liebesentzug reagieren.


[1] Baer, Udo (2013): Familientherapie. Humanistisch – leiborientiert – kreativ. Berlin: Semnos

Udo Baer

Dr. phil. (Gesundheitswissenschaften), Diplom-Pädagoge, Kreativer Leibtherapeut AKL, Mitbegründer und Wissenschaftlicher Berater der Zukunftswerkstatt therapie kreativ, Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für soziale Innovationen (ISI) sowie des Instituts für Gerontopsychiatrie (IGP), Vorsitzender der Stiftung Würde, Mitinhaber des Pädagogischen Instituts Berlin (PIB), Autor

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