Kinder ernst nehmen – oder prozesstauglich machen?

Beitrag von Dr. Claus Koch

In unserem Blog vom 26.4. im Beitrag „Die Gesellschaft muss lernen, ihre Kinder ernst zu nehmen“ gehe ich im Zusammenhang mit dem Thema sexualisierter Gewalt auch auf die Vorgänge auf dem Campingplatz in Lüdge ein. Die zahlreichen amtlichen Skandale um den dort stattgefundenen sexuellen Missbrauch an zahlreichen Kinder finden nun in der Frage ihre Fortsetzung, wie mit den Missbrauchsopfern weiterhin umzugehen sei. In einer Mischung aus Hilflosigkeit und Kaltblütigkeit gaben die Polizei Bielefeld und die Staatsanwaltschaft Detmold den Eltern der betroffenen Kinder den Rat, eine Psychotherapie doch erst nach Ende eines Gerichtsprozess zu beginnen.

Beide, Polizei und Staatanwaltschaft votierten stattdessen dafür, die Kinder zunächst „nur“ zu „stabilisieren“ (was immer sie darunter verstanden), um sie auf diese Weise prozesstauglich zu machen. Denn ein Therapieeinstieg könnte sich auf die Glaubwürdigkeit der Kinder bzw. die Verwertbarkeit ihrer Aussage eher ungünstig auswirken. Mit anderen Worten: Therapie macht prozessuntauglich. Wieso es bei der Fülle belastender Dokumente ihrer detaillierten Aussage zu den Tatvorgängen überhaupt noch bedarf, wäre eine weitere Frage. Weil man ihnen a priori nicht über den Weg traut? Etwa weil sie „mitgemacht“ haben?

Sexualisierte Gewalt macht Kinder zum Objekt der Willkür von Erwachsenen. Sie vernichtet wissentlich ihre Integrität. Kinder, die sexuell missbraucht werden, fühlen sich innerlich wie ausgelöscht. Und „kooperieren“ dennoch. Das macht in ihren Augen alles noch schlimmer. Nicht weil sie es so wollen, sondern weil sie sich gegen die Übermacht von Erwachsenen, die es nicht gut mit ihnen meinen, nicht zur Wehr setzen können. Von Erwachsenen, die wiederum versuchen, dieses Machtverhältnis durch eine völlig perverse Form von „Bindung“ zu kaschieren, um die Kinder von sich abhängig zu machen: Durch „Zuneigung“, Versprechungen und Geschenke, die den zumeist ins Leere greifenden Bindungswunsch eines Kindes verstärken. Die Kehrseite solcher „Angebote“, wenn das Kind versucht, seine Integrität zu verteidigen, sind Drohungen, Erpressungen oder pure Gewaltanwendung.

Im Mittelpunkt der Therapie dieser Kinder steht zunächst, ihnen zu vertrauen und Gehör zu schenken. Und zwar egal wie sie sich äußern. Alles zu tun, um ihnen zu erleichtern, den Weg wieder zu sich zurückzufinden, zu einem Selbst, vor dem sie wieder Achtung empfinden, weil es ihre Würde und Integrität zum Ausdruck bringt. Sie erneut zum Objekt von den Interessen Erwachsener zu machen wirkt hingegen toxisch. Und ihnen deswegen eine Therapie zu verweigern ist ein Aufruf zu unterlassener Hilfeleistung, der bekanntermaßen selbst unter Strafe steht.

Claus Koch

Dr. phil. (Psychologie), Diplompsychologe. Bis Juli 2015 Verlagsleiter für den Bereich Sachbuch und Elternratgeber beim Beltz Verlag in Weinheim. 2015 gründete er zusammen Udo Baer das „Pädagogische Institut Berlin“ (PIB). Jahrelange wissenschaftliche Tätigkeit mit dem Schwerpunkt Entwicklungspsychologie des Kindes und Jugendlichen unter psychoanalytischen und bindungstheoretischen Gesichtspunkten, u.a. mit einem Lehrauftrag an der Universität Bielefeld. Publizist und Autor. Zahlreiche Vorträge, Buchveröffentlichungen und Artikel in Fachzeitschriften. Vorstandsmitglied des „Archiv der Zukunft“ (AdZ).

Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

  1. Robin Menges

    Danke!
    Das Wesentliche in Worte gefasst.

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