Die Zahl der Sitzenbleiber ist im Schuljahr 2021/2022 laut Statistischem Bundesamt um 67% gegenüber dem Vorjahr gestiegen – ein trauriger Rekord. Insgesamt mussten 155.800 Schülerinnen und Schüler die Klasse wiederholen, entweder freiwillig oder weil sie nicht versetzt wurden. Corona und die zeitweiligen Schulschließungen, deren Sinn und Zweck mittlerweile von vielen ihrer damaligen Fürsprecher selbst in Frage gestellt werden, mögen dabei eine Rolle gespielt haben. Und wieder wird es jene besonders getroffen haben, die allein und im Stich gelassen den fehlenden Präsenzunterricht ohne häusliche und materielle Unterstützung nicht kompensieren konnten. Schüler*innen, die irgendwann den Anschluss verpasst haben, unterwegs „verlorengingen“ und die dann zurückgestellt wurden wie eine Uhr. Doch „Sitzenbleiben“ auf die offenkundigen Schwächen des Schulsystems während der Coronazeit zurückzuführen, greift zu kurz. Schließlich lag die Anzahl von „Sitzenbleibern“ schon vor Corona ähnlich hoch.
„Sitzenbleiben“ hat in erster Linie damit zu tun, dass das Idealbild von Bildungspolitikern seit eh und je die in ihrer Zusammensetzung „homogene“ Schulklasse ist. Vordringlich betrifft es die Leistungsfähigkeit der Schüler, aber auch ihr dem Unterricht angepasstes Verhalten spielt eine Rolle. Das fängt mit der Zurückstellung von Kita-Kindern zum Schuleintritt an, worauf die bekannten Auswahlverfahren während der Grundschulzeit und beim Übergang in die weiterführende Schule folgen.
Die Grundidee ist also, über alle unterschiedlichen Schularten hinweg für eine möglichst homogene Schülerschaft zu sorgen. Da dies trotz aller Auswahlkriterien aber nicht immer auseichend gelingt, dient als letztes Mittel, dieses Ziel zu erreichen, der pädagogische Taschenspielertrick des Sitzenlassens. Man entledigt sich des Problems mangelnder Homogenität der Schüler*innen in einer Klasse, indem man den einen oder die andere nach unten hin wieder aussortiert. Was darüber hinaus von manchen Pädagog*innen auch als beliebtes pädagogisches Druckmittel benutzt wird, um die Lernmotivation eines Schülers oder einer Schülerin zu stärken.
Eine Klasse zu wiederholen, mag für den einen oder anderen tatsächlich Entlastung vom Leistungsstress bedeuten, lässt ihn oder sie zumindest vorübergehend einmal Luft zu holen und ohne das Damoklesschwert schlechter Noten auskommen. Auch gelingt manchmal mithilfe einer Lehrerin oder eines Lehrers ein echter Neustart, wenn sich die betroffenen Schüler von ihr oder ihm angenommen, beachtet und anerkannt fühlen, was für den Lernerfolg in der Schule eine bedeutende Rolle spielt, wie jede und jeder Erwachsene aus eigener Schulerfahrung weiß.
In den meisten Fällen jedoch, das haben viele Studien offenlegen könne, ist Sitzenbleiben keine geeignete pädagogische Maßnahme, die schulische Leistung eines Schülers auf längere Sicht zu verbessern. Statt zum richtigen Zeitpunkt in seiner alten Klasse gezielt gefördert zu werden, landet der Sitzenbleiber nach einigen Monaten genau wieder dort, wo er sich bereits ein Jahr zuvor befand. Hinzukommt die Erfahrung sozialer Ausgrenzung, das Gefühl „gescheitert“ zu sein und an der eigenen Wirksamkeit zu zweifeln. Die Eltern-Kind-Beziehung leidet, wenn sich Eltern, was häufig der Fall ist, für das „Scheitern“ ihres Kindes verantwortlich fühlen, sich selbst dafür schämen oder die Schuld ihrem Kind geben, dem Notendruck in der Schule nicht genügend standgehalten zu haben. Kinder und viele Jugendliche macht das unglücklich, sie fühlen sich einsam und nicht gewürdigt so, wie sind, zumal sich viele von ihnen doch alle Mühe gegeben haben, um das Sitzenbleiben zu verhindern.
Um diesen Teufelskreis zu brechen, haben eine Reihe von Schulen beschlossen, dass an ihnen niemand sitzenbleibt: „Alle werden mitgenommen, niemand von euch wird bei uns zurückgelassen“ lautet die Botschaft an die Schüler*innen. Eine, wie sich hier an diesen Schulen herausgestellt hat, pädagogisch ebenso sinnvolle wie auch erfolgreiche Maßnahme, die Lehrer*innen wie Schüler*innen als Ansporn dient, gemeinsam den Schulalltag erfolgreich so zu bestehen, dass er den Stärken und Schwächen jedes einzelnen Schülers gerecht wird und niemand zurückbleibt.
Wenn allerdings, wie gerade geschehen, ein von den Kultusministern eingesetzter „Expertenrat“ jetzt allen Ernstes zu größeren Klassen rät, um dem bestehenden Lehrermangel entgegenzuwirken, dürfte dieses Ziel, niemanden zurückzulassen und aufzugeben, in noch weitere Ferne rücken und die Anzahl derer, die dann aussortiert werden, wird weiter zunehmen.