„Die Gesellschaft muss lernen, ihre Kinder ernst zu nehmen“

Beitrag von Dr. Claus Koch

 

Geschichten, die zählen – Anfang April dieses Jahres hat die von der Bundesregierung im Mai 2016 ins Leben gerufene „Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs“ ihren ersten Zwischenbericht vorgelegt. Über 1.700 Betroffene von sexualisierter Gewalt hatten sich in den letzten drei Jahren bei ihr gemeldet, über 900 vertrauliche Anhörungen fanden statt, zusätzlich gingen 320 schriftliche Berichte ein. Die Spitze eines Eisberges. Nach der vom Bundesinnenministerium veröffentlichten polizeilichen Kriminalstatistik wurden im vergangenen Jahr 13.683 Kinder als Opfer von sexuellem Missbrauch erfasst – die Dunkelziffer aber liegt weit höher.

Wie die Vorsitzende der Kommission, die Erziehungswissenschaftlerin Sabine Andresen, in ihrer Erklärung weiterhin ausführte, fanden sich die Opfer in allen gesellschaftlichen Bereichen, über das nahe soziale Umfeld bis hin zu Schule, Kirche und Sport. Allein 56 Prozent der Betroffenen wurden in ihren Familien missbraucht.

Eines der wichtigsten Themen der Kommission sei das „Schweigen der Anderen“ gewesen – von Familienangehörigen, Freunden, Nachbarn, Lehrkräften oder Mitarbeitern des Jugendamtes: „Es ist auffällig, wie häufig das nahe Umfeld und die gesamte Gesellschaft versagt haben und Kinder nicht geschützt wurden.“ Damit hätten sie dazu beigetragen, dass der erlebte Missbrauch nicht beendet und später die Aufarbeitung verhindert wurde. Für Prävention und Kinderschutz sei es zentral, diesen Widerständen und dem Schweigen etwas entgegenzusetzen.

 

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Wir wissen, dass von sexualisierter Gewalt betroffene Kinder sich in den allermeisten Fällen nicht trauen, selbst von dem zu berichten, was ihnen angetan wird – oft Monate, Jahre oder ein ganz Leben lang. Aus Scham. Und oft auch aus Angst, weil sie als Kinder von ihren Peinigern erpresst und gezwungen wurden, niemandem etwas zu erzählen. Manchmal suchen sie dann sogar die Schuld bei sich. Aber oft auch schweigen sie, weil niemand so genau hinsehen will, ihre Zeichen nicht deutet oder die Taten im schlimmsten Fall sogar bagatellisiert. So ist es kaum vorstellbar, dass auf dem Campingplatz in Lüdge niemand bemerkt haben will, dass dort mehr als 40 Kinder über Jahre missbraucht und dabei gefilmt wurden, zumal mittlerweile auch gegen weitere Täter an genau diesem Ort ermittelt wird. Der 56-jährige mutmaßliche Täter galt seinen Mitbewohnern lediglich als „komischer Typ und etwas verschroben.“ Es ist zu befürchten, dass die Bewohner dieses Campingplatzes, hätte er in seiner verwahrlosten Hütte einen Hund untergebracht, eher den Tierschutz verständigt hätten als das Jugendamt, weil sie sich Sorgen um das Mädchen gemacht haben, das da allein bei ihm aufwuchs. Wobei dem Kind das Jugendamt wohl auch wenig genutzt hätte: Trotz dreier Hinweise auf Pädophilie und möglichen Missbrauch ließ es das Mädchen bei dem Dauercamper weiter wohnen und übertrug ihm 2017 sogar die Pflegschaft.

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Im Umfeld der Berichterstattung über den Bericht der Kommission zu Kindesmissbrauch wurde ein weiterer Fall geschildert, der uns zum Nachdenken bringen sollte. Ein 8-jähriges Mädchen hatte sich über Wochen geweigert, sich für die Sportunterricht aus- und umzuziehen. Die Lehrerin bestrafte es für sein Verhalten, es musste in seinen Alltagsklamotten dem Sportunterricht zusehen und andere Kinder machten sich über es lustig. Auf die Idee sich zu fragen, warum sich die Schülerin so verhielt, kam diese Lehrerin erst, als sie vom Missbrauch an diesem Kind erfuhr. So wurde es erneut erniedrigt und beschämt.

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Für die Frankfurter Jugendforscherin und Vorsitzende der Kommission Sabine Andresen ist es entscheidend, dass Erwachsene, die mit Kindern umgingen, ständig fortgebildet werden. Sie müssten Missbrauch identifizieren können und über Täterstrategien oder die Folgen von Missbrauch aufgeklärt werden. „Die Gesellschaft muss lernen, Kinder ernst zu nehmen, damit sie sich nicht mehr ohnmächtig fühlen“, fordert sie. Denn die betroffenen Kinder erlebten eine „existenzielle Dauerbelastung“, weil sie häufig völlig schutzlos blieben. Es sei ein wesentliches Anliegen, dass ihre Geschichten gehört würden.

Menschen in pädagogischen Berufen, alle ErzieherInnen und LehrerInnen müssen in ihrer Ausbildung lernen, dass hinter jedem „abweichenden Verhalten“ eines Kindes sich eine Geschichte verbirgt. Sie müssen lernen, dass Kinder Gründe haben, wenn sie „auffallen“ und „aus der Reihe tanzen“. Die Schuld dafür beim Kind zu suchen läuft auf die Missachtung seiner elementaren Bedürfnisse und Würde hinaus. Dazu bilden wir, das Pädagogische Institut Berlin „Lehrer-Balint Gruppen“ an Schulen, bei denen wir uns gemeinsam mit ErzieherInnen und LehrerInnen über Kinder austauschen, die auffallen, um ihnen gemeinsam zu helfen. Dazu halten wir Vorträge oder halten Workshops an Kitas und Schulen, die die Beziehungskompetenz von Pädagogen stärken und ihre Feinfühligkeit und Sensibilität gegenüber den ihnen anvertrauten Kindern fördern. Experten der WHO gehen davon aus, dass in jeder deutschen Schulklasse bis zu zwei Kinder sitzen, die sexuell missbraucht wurden oder immer noch werden.

Weitere Infos: info@paedagogisches-institut-berlin.de

Claus Koch

Dr. phil. (Psychologie), Diplompsychologe. Bis Juli 2015 Verlagsleiter für den Bereich Sachbuch und Elternratgeber beim Beltz Verlag in Weinheim. 2015 gründete er zusammen Udo Baer das „Pädagogische Institut Berlin“ (PIB). Jahrelange wissenschaftliche Tätigkeit mit dem Schwerpunkt Entwicklungspsychologie des Kindes und Jugendlichen unter psychoanalytischen und bindungstheoretischen Gesichtspunkten, u.a. mit einem Lehrauftrag an der Universität Bielefeld. Publizist und Autor. Zahlreiche Vorträge, Buchveröffentlichungen und Artikel in Fachzeitschriften. Vorstandsmitglied des „Archiv der Zukunft“ (AdZ).

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Mia Michaela

    Wer selbst traumatisiert ist und durch „auffälliges“ beziehungsweise „anderes“ Verhalten eines Kindes an sein Eigenes erinnert wird: Wie soll so jemand eingreifen? Selbst instabil, nützen die wunderbarsten Fortbildungen nichts, diese dann auch praktisch anzuwenden. An so einer teilgenommen zu haben erweitert zwar das Wissen, ABER im Handeln geht es wie gehabt weiter.

    Darum wünsche ich mir mehr Selbstreflexion und eine andere Perspektive von Erziehenden und Lehrern einnehmen zu können. Ich wünsche mir kommunikativen Austausch unter dem Kollegium. Wer gelernt hat zu schweigen, wird das auch weiterhin tun. Wer gelernt hat, dass weggeschaut, und weggehört wird, wird weiterhin „es mit sich selbst ausmachen“. Das kann auch bedeuten, dass ein Erzieher, ein Lehrer, im Alleingang versucht Schritte zu unternehmen. Die dann auch ins Leere laufen.

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