Kleine Kinder wollen fliegen

Von Claus Koch

Es lässt sich täglich auf Neue beobachten. Kleine Kinder, die die Hand ihrer Eltern loslassen, rennen los. Auf dem Gehweg, am Strand, beim Spaziergehen. Egal wo. Wenn sie auf den Schultern ihrer Mutter oder ihres Vaters sitzen und es könnten, würden sie wohl am liebsten losfliegen. Überhaupt erinnern sie uns an die Vögel. Auch die schwirren umher, setzen sich kurz, und weiter geht’s.

Kleine Kinder wollen die Welt erkunden, ihre kleinen Beine sollen sie überall hinführen. Und sie können es! Hin zu einer Pfütze, zu einem Bagger, zu einem Fluss oder einfach nirgendwohin. Hauptsache los, alles erkunden. Was aus ihrer Perspektive in der Ferne liegt, macht ihnen keine Angst. Sie denken nicht lange nach. Leben im Augenblick. Und der will genutzt sein, ihre Neugierde kennt keine Grenzen. Kleine Kinder drehen sich hin und wieder mal um, ihre Eltern nicht aus dem Blick zu verlieren. Um die Einfahrt in den sicheren Hafen nicht zu verpassen. Manchmal vergessen sie das. Dann bleiben sie wie angewurzelt stehen. Wo ist die Mama, wo ist der Papa? Ach da. Alles OK. Und rennen weiter.

Erste wenn sie in die Schule kommen, werden kleine Kinder sesshaft. Denn jetzt müssen sie sitzen. Es fällt ihnen schwer. Nur auf dem Pausenhof können sie wieder rennen. Weniger, um etwas Neues zu entdecken, denn meistens gibt es dort nicht viel Besonderes zu entdecken. Jetzt aber dient ihr Laufen, mit anderen Kindern in Kontakt zu kommen. Um gefangen zu werden, um einen Ball gemeinsam vor sich her zu schießen, um sich zu verstecken, auch um miteinander zu kämpfen. Wenn sie Glück haben, dürfen sie nach Schulschluss dann wieder los. Nicht mehr so schnell wie früher, aber ihre Neugierde auf Neues bleibt. Auch dann, wenn sie jetzt langsam älter werden, sich mit Freund*innen treffen, möglichst fern der Eltern, von deren Nähe sie dann langsam Abschied nehmen.

Kinder vor Handys, Tablets und Smartphones rennen nicht. Im besten Fall erobern sie auch hier neue Welten. Nachhaltig aber nur dann, wenn sie die „alte Welt“ dabei nicht aus den Augen verlieren.

Claus Koch

Dr. phil. (Psychologie), Diplompsychologe. Bis Juli 2015 Verlagsleiter für den Bereich Sachbuch und Elternratgeber beim Beltz Verlag in Weinheim. 2015 gründete er zusammen Udo Baer das „Pädagogische Institut Berlin“ (PIB). Jahrelange wissenschaftliche Tätigkeit mit dem Schwerpunkt Entwicklungspsychologie des Kindes und Jugendlichen unter psychoanalytischen und bindungstheoretischen Gesichtspunkten, u.a. mit einem Lehrauftrag an der Universität Bielefeld. Publizist und Autor. Zahlreiche Vorträge, Buchveröffentlichungen und Artikel in Fachzeitschriften. Vorstandsmitglied des „Archiv der Zukunft“ (AdZ).

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