Von Claus Koch
Jedes zehnte Grundschulkind geht mit leerem Magen aus dem Haus, so das Ergebnis einer repräsentativen Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach. Auf die knapp drei Millionen Grundschüler in Deutschland sind das rund 300.000 Schülerinnen und Schüler, die morgens die Wohnung ihrer Eltern – oft auch ohne ausreichendes Pausenbrot – verlassen. Wobei nicht nur sie und ihr ungestillter Hunger das Problem sind, denn darüber hinaus gibt es etwa genauso viele Schüler, die morgens zu Hause zwar frühstücken, aber allein. Was auch damit zu tun haben könnte, dass heute jedes fünfte Kind mit einem alleinerziehenden Elternteil zusammenlebt. Beginnt dessen Arbeit früher als Schule und Hort, müssen viele Kinder dann schon in der Frühe für sich selbst sorgen.
Gemeinsames Essen wirkt bindungsstiftend. Und stellt eine Alltagsroutine dar, die besonders für die jüngeren Kinder Geborgenheit, Sicherheit und Verlässlichkeit bedeuten. Beim gemeinsamen Frühstück lässt sich mit dem Kind außerdem über seinen (und den eigenen!) bevorstehenden Tag reden, können Ängste und Kummer geäußert werden ebenso wie freudige Ereignisse, die vielleicht bevorstehen. Ein Resonanzraum öffnet sich, in den jede und jeder sich einbringen kann. Aber auch wenn es, wie häufig mit Kindern in der Frühe, zu keinen allzu ausführlichen Gesprächen kommt, weil alle Beteiligten noch etwas müde sind, stiftet die kurze Begegnung in der Küche oder im Wohnzimmer Nähe und Vertrauen, bevor alle, Kinder wie Erwachsene ihrer Wege gehen: „Tschüss, hab einen schönen Tag – ich freue mich, Dich heute Nachmittag wiederzusehen.“ – „Ich verstehe, dass Du traurig bist, dass Deine beste Freundin in eine andere Stadt gezogen ist.“
Gemeinsame Mahlzeiten sind auch ein gutes Medium für „spürende Begegnungen“. Man erkennt, dass mit einem Kind „etwas nicht stimmt“, wenn es plötzlich kaum noch Appetit hat, gar nichts mehr sagt und nur noch „bei sich“ in seinen Gedanken versunken ist. Oft kein Grund zur Sorge, weil es uns Erwachsenen ja manchmal ähnlich geht. Wenn aber die Stimmung anhält und sich Schweigen und Traurigkeit fortsetzen, kann man dem Kind seine Sorge mitteilen: „Du bist seit einer Woche so still beim Frühstück, auch abends, wenn wir gemeinsam etwas kochen. Ich möchte es gerne verstehen.“ So überlässt man dem Kind die Initiative. Sicherlich antwortet es nicht sofort, aber irgendwann verrät es vielleicht doch den Grund: „Ich fühle mich in der Schule so einsam“ – „Der P. ärgert mich die ganze Zeit“. „L. hat mich neulich Fettie genannt“, „Ich bin traurig, weil ihr euch getrennt habt, Du Mama und Papa.“ Für Kinder ist dann wichtig zu wissen, dass sie zuhause immer willkommen sind und sich gut aufgehoben fühlen können. Manchmal brauchen sie eben Unterstützung, um mit ihrem Alltag klarzukommen. Allein die empfundene Gemeinsamkeit und das Sprechen können dabei helfen.
Wenn Lehrerverbände beklagen, dass sich ein fehlendes Frühstück massiv auf die schulische Leistungsfähigkeit auswirken würde, dann mögen sie rechthaben, aber dies ist nur eine Seite der Medaille. Denn vor allem spüren die Kinder Verlassenheit und auch, dass es andere Kinder offensichtlich besser haben als sie. Ihren Eltern die Schuld zu geben, hilft dabei wenig weiter, auch wenn man das Gespräch mit ihnen suchen sollte. Wichtig ist vor allem eine Haltung der Schule, die auch diese Kinder wohlwollend aufnimmt, zum Beispiel mit einem gemeinsamen kleinen Frühstück zum Empfang oder in der ersten längeren Pause. An einigen Schulen ist dies, wie das gemeinsame Mittagessen zusammen mit Lehrerinnen und Lehrern, schon möglich. Kommunen übernehmen für diejenigen, die es sich nicht leisten können, die Kosten. Beim gemeinsamen Essen können sich alle miteinander austauschen, und manchmal lernen Lehrerinnen und Lehrer ganz neue Seiten der Kinder kennen, die ihnen anvertraut sind. Der sonst so schüchterne Daniel lacht und macht Witze, und die „coole“ Nina tröstet ihre Sitznachbarin, die eine schlechte Note bekommen hat. Besonders aber solchen Kindern, die morgens kein Frühstück bekommen oder ganz allein etwas in sich hineinlöffeln, nutzt solcherart Gemeinsamkeit, denn sie stillt viel mehr als nur ihren Hunger.
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