Die Wissenschaft hat festgestellt, … 

Wie Wissenschaftler*innen Kinder missachten 

Von Udo Baer 

Eigentlich sollten Wissenschaftler*innen die Wahrheit in den Tatsachen suchen. Doch wenn die Tatsachen bei Kindern nicht in die Sicht der Erwachsenen passen, werden sie manchmal einfach ignoriert. So sind die REM-Phasen im Schlaf Erwachsener durch Träume und Augenbewegungen gekennzeichnet. Sie dienen offensichtlich dazu, Reize zu verarbeiten, denen Menschen tagsüber ausgesetzt sind und die sie aufnehmen. Nun wurde festgestellt, dass Säuglinge besonders hohe Gehirnaktivitäten in besonders langen REM-Phasen des Schlafes zeigen. Aber das passt nicht in die Erwachsenen-Vorurteile mancher Wissenschaftler*innen, nach denen Babys passiv sind und nur wenig Austausch mit der Welt haben. Welch ein Unfug! Babys führen zwar keine Terminkalender, checken keine Mails und absolvieren keine Meetings. Doch wenn wir uns in die kleinen Menschen hineinversetzen, wird deutlich, wie viele neue Reize die verarbeiten müssen. Jeder Gegenstand ist neu, jede Farbe – und nicht nur visuelle Reize strömen auf sie ein: Das Schmusetuch ist gewaschen und riecht anders, die Straßenbahn fährt vorbei und macht unerklärliche Geräusche, der Finger des Bruders fühlt sich anders an als der der Mutter, die Milch schmeckt etwas kühler als vor ein paar Stunden … Jeder Sinneseindruck ist neu und potenziell überwältigend, jeder Reiz findet erst allmählich einen Boden der Erfahrung, auf dem er eingeordnet werden kann. Diese enorme Leistung von Erfahrung und Erleben wird ignoriert, wenn es heißt: 

„Babys erleben am Anfang ihres Lebens recht wenig. Forscher gehen deshalb davon aus, dass sie dieses fehlende visuelle Erleben ausgleichen durch besonders aktiven Schlaf und viele Träume. Die Autostimulationstheorie besagt, dass die hohe Gehirnaktivität während des REM-Schlafes die wenigen externen Reize quasi wettmacht.“ 

Was nicht in die Blickweisen der Erwachsenen passt, wird so ausgeblendet. Damit die eigenen Theorien nicht infrage gestellt werden müssen, wird schnell eine neue erfunden bzw. für Babys adaptiert, die „Autostimulationstheorie“. Von Autostimulation redet man, wenn Kinder zum Beispiel wiederholte Bewegungen durchführen, bei autistischen Kindern oft „Stimming“ genannt. Das dient den Kindern dem Abbau von Erregung und v.a. Spannung. Auch hier ist die Bezeichnung „Autostimulation“ falsch oder zumindest unscharf, denn sie unterstellt, dass die Kinder sich selbst stimulieren müssten, da es ihnen an Stimulationen durch äußere Reize fehle. Das Gegenteil ist richtig, die Kinder, die „Stimming“ praktizieren, sind so voll von äußeren Reizen, die sie dies brauchen, um ihre Spannung abzubauen. Es geht auch hier nicht darum, dass die Kinder nichts oder zu wenig erleben, sondern eher um das Gegenteil: um die geradezu unendliche Fülle ihres Erlebens in einer neuen, einer fremden Welt.  

Udo Baer

Dr. phil. (Gesundheitswissenschaften), Diplom-Pädagoge, Kreativer Leibtherapeut AKL, Mitbegründer und Wissenschaftlicher Berater der Zukunftswerkstatt therapie kreativ, Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für soziale Innovationen (ISI) sowie des Instituts für Gerontopsychiatrie (IGP), Vorsitzender der Stiftung Würde, Mitinhaber des Pädagogischen Instituts Berlin (PIB), Autor

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