Das freie Feld

von Claus Koch

Vor einigen Wochen beobachtete ich folgende Szene. Eine Mutter ging mit ihrem Sohn, etwa 5 Jahre alt, auf einem Feldweg vor mir her, neben uns ein Feld mit vielen Heuballen, das gerade gemäht worden war. Der kleine Junge löst sich von der Mutter und möchte auf das Feld hinauslaufen. Der weite Horizont und sicherlich auch die Heuballen locken das Kind förmlich an, ins Freie und vor ihm liegende Unbekannte zu stürmen. Aber seine Mutter hält es zurück. Nicht weil es verboten wäre, das Feld zu betreten oder dem Kind dort Gefahren drohen. Es ist womöglich ihre eigene, eigentlich unbegründete Angst, das Kind könnte ihr davonlaufen und sie die Kontrolle über es verlieren. Wahrscheinlich wurde sie von ihren Eltern in ihrem Drang nach Selbstständigkeit ähnlich zurückgehalten. Der Kleine verstand zunächst gar nicht, warum er nicht auf das vor ihm liegende Feld laufen durfte, versuchte, sich ein wenig hinauszuwagen, aber aus Loyalität zu seiner Mutter oder weil er fürchtete, für seinen Freiheitsdrang bestraft zu werden, kehrte er nach einer kurzen, lautstarken Intervention seiner Mutter wieder zu ihr zurück. Vielleicht auch, weil er die Angst seiner Mutter bei sich selbst spürte.

Macht ein Kind diese und ähnliche Erfahrungen oft, überträgt sich die zögerliche und ängstliche Haltung seiner Eltern vor dem Unbekannten und Fremden auf es selbst. Wenn seine Eltern ihm immer wieder verbieten, sich von ihnen zu entfernen, etwas ihm Neues zu untersuchen oder sich ihm zu nähern, denkt das Kind mit der Zeit, dass ihre Furcht berechtigt sein könnte und die Welt, die es umgibt, tatsächlich ein gefährlicher Ort.

Kinder aber brauchen schon früh die Freiheit, sich dem Unbekannten und Unvorhergesehen öffnen zu können, auch dann, wenn sie noch ganz klein sind. Sind die Eltern in der Nähe, fällt es ihnen umso einfacher, der rettende Hafen ist ja in Sichtweite. Dann verlieren sie ihre Angst vor dem ihnen manchmal unheimlichen Draußen und werden sich, wenn sie älter sind, auch ganz allein selbstbewusst, neugierig und wissensdurstig auf ihren eigenen Weg machen.

Zu viel Kontrolle und zu viele Verbote versperren Kindern ihren Weg in die Welt. Das macht sie eng und ängstlich. Das Draußen, statt sich vor ihnen zu öffnen, verschließt sich ihnen und kommt ihnen als bedrohlicher und fremder Ort vor. Und viel später laufen sie vielleicht den Rattenfängern von heute hinterher, die alles „Fremde“ aus ihrer Umgebung entfernen wollen. Dem Drang des Kindes nach Freiheit und neuen Entdeckungen nachzugeben, hilft also auch gegen Fremdenangst und macht ein Kind aufgeschlossen auch dem gegenüber, das es (noch) nicht kennt.      

Claus Koch

Dr. phil. (Psychologie), Diplompsychologe. Bis Juli 2015 Verlagsleiter für den Bereich Sachbuch und Elternratgeber beim Beltz Verlag in Weinheim. 2015 gründete er zusammen Udo Baer das „Pädagogische Institut Berlin“ (PIB). Jahrelange wissenschaftliche Tätigkeit mit dem Schwerpunkt Entwicklungspsychologie des Kindes und Jugendlichen unter psychoanalytischen und bindungstheoretischen Gesichtspunkten, u.a. mit einem Lehrauftrag an der Universität Bielefeld. Publizist und Autor. Zahlreiche Vorträge, Buchveröffentlichungen und Artikel in Fachzeitschriften. Vorstandsmitglied des „Archiv der Zukunft“ (AdZ).

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