3.  Die Liebe der Opfer zu den Täter*innen

Serie: Wie Kinder lieben

Ich bin vielen Kindern begegnet, die Opfer von Gewalttaten waren. Die meisten dieser Gewalttaten erfolgten im engen familiären Umkreis, oft von Müttern oder Vätern, manchmal auch Großeltern oder anderen nahen Verwandten. Diese Kinder zeigten die Folgen zwischen Angst und hilfloser Wut, zwischen Ohnmachtsgefühlen, Rückzug und Desorientierung. Auffällig war, wie viele dieser Kinder – nicht alle, aber viele – die Täter*innen, vor allem wenn sie deren Eltern waren, weiterhin liebten. Da ist ein Junge, der in einem Jugendheim lebt, weil ihm so viel Schreckliches von seinem Vater zugefügt wurde. Er möchte trotzdem regelmäßig mit seinem Vater telefonieren, auch wenn er weiß, dass es ihm danach schlecht geht. Hier im Rückschluss nur so reagieren, dass man sagt, das wäre Täter*innenkontakt und den müsse man verbieten, verkennt die Liebe der Kinder und auch die Liebe des Jungen. Es war bei diesem Beispiel richtig, dem Jungen ein Telefonat mit dem Vater zu erlauben, keinen persönlichen Kontakt, aber eine telefonische Begegnung. Allerdings so, dass der Junge dabei nicht allein war, sondern Unterstützung dabei und danach erhielt.

Die Liebe von Kindern auch zu Täter*innen ist manchmal so groß und tief, dass sie die schlimmsten Erfahrungen übersteht. Manche Kinder leugnen dann diese schlimmen Erfahrungen. Andere versuchen sie zu erklären durch irgendwelche Faktoren, die die Elternteile dazu getrieben haben. Wieder andere wissen um diese Erfahrungen und akzeptieren, dass sie so schrecklich sind, UND sie wollen weiter Begegnung oder Kontakt, weil die Verbindung zu den Eltern und die Liebe anhält und so groß ist. Diese Widersprüchlichkeit ist oft durch logische Überlegungen nicht zu erklären, aber sie gehört zur Grammatik der Gefühle. Die Liebe der Kinder kann so vieles aushalten und überstehen, sie lieben UND sie leiden. Unser menschliches Gefühlsleben ist häufig sehr widersprüchlich.

Wie damit umzugehen ist, dafür gibt es keine Rezepte. Erwachsene Menschen, die Kinder begleiten, sollten die um diese Widersprüchlichkeit und diese Liebe wissen, so absurd sie einem auch vorkommen mag. Dann müssen im Einzelfall Lösungen und Umgangsweisen gefunden werden, die der Liebe und der Widersprüchlichkeit der Gefühle Rechnung tragen.

Es gibt auch Kinder, bei denen die Liebe zu den Täter*innen erstorben ist. Sie brauchen und wollen Distanz. Meist entwickelt sich diese Entschiedenheit nach einem längeren qualvollen Prozess, in dem Kinder lange versuchen, eine liebevolle Beziehung doch noch aufrechtzuerhalten oder zumindest davon zu träumen und sich nach ihr zu sehnen. Manche Kinder leben mit diesen Abbrüchen gut. Die Distanz schafft ihnen Spielräume, sich auch anderen Menschen zuzuwenden, mit denen sie positive Erfahrungen machen.

Bei einigen Kindern habe ich beobachtet, dass die Liebe zu sich selbst erstirbt, wenn die Liebe zu den Eltern erstorben ist. Zumindest wird ein liebevoller Umgang mit sich verunsichert und brüchig. Das ist nachvollziehbar und verständlich, weil diese Kinder Brüche in ihrer Liebe erlebt haben bzw. ihnen Brüche zugemutet und zugefügt worden sind.

Auch bei den Kindern, die eine gute Entwicklung nehmen können, nachdem sie ihre Liebessehnsucht zu Täter*innen aufgegeben haben und sich anderen Menschen zuwandten, kann in späteren Jahren während des erwachsenen Lebens plötzlich diese Liebessehnsucht wieder aufflackert. Manchmal mündet diese Sehnsucht in Versuchen der Kontaktaufnahme. Oft geistert, sie wage und schemenhaft im Erleben der Menschen umher. Dann gilt es, sie zu entdecken und zu konkretisieren.

Udo Baer

Dr. phil. (Gesundheitswissenschaften), Diplom-Pädagoge, Kreativer Leibtherapeut AKL, Mitbegründer und Wissenschaftlicher Berater der Zukunftswerkstatt therapie kreativ, Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für soziale Innovationen (ISI) sowie des Instituts für Gerontopsychiatrie (IGP), Vorsitzender der Stiftung Würde, Mitinhaber des Pädagogischen Instituts Berlin (PIB), Autor

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