Die Hochwasserkatastrophe und die Kinder

von Dr. Claus Koch

Immer wenn im Fernsehen oder anderen Medien über die Hochwasserkatastrophe in NRW, in Rheinland-Pfalz oder anderswo berichtet wurde, fiel auf, dass vor Ort so gut wie keine Kinder zu sehen waren. Im Gegensatz zu Berichten aus Krisen- und Katastrophengebieten in ärmeren Ländern, wo die Kinder oft mit leeren Augen in Kameras starren, wenn sie vor den Resten ihres Zuhauses stehen und zwischen herumliegenden Trümmern wieder anfangen zu spielen. Um wenigstens für kurze Zeit die Schrecken des gerade Erlebten zu vergessen.

Dass uns diese Bilder erspart blieben liegt wahrscheinlich daran, dass die Kinder der von der Flutkatastrophe betroffenen Familien bei uns schnell Aufnahme bei nahen Verwandten gefunden haben, bei Nachbarn oder Freunden, und auf diese Weise „in Sicherheit“ gebracht werden konnten. Dass sie schnell wieder ein Dach über dem Kopf fanden und sich, so schrecklich ihre Eltern auch betroffen waren, dort bekamen, was alle Kinder brauchen: Schutz, Geborgenheit und fürsorgliche Zuwendung.

Doch auch, wenn diese Kinder von Eltern, die alles in den Fluten verloren hatten, schnell einen Ort finden konnten, an dem sie sich gut aufgehoben fühlten, werden sie die Folgen des Erlebten noch lange in sich spüren und mit sich tragen. Da ist zunächst das, was sie am eigenen Leib erlebt haben, die Flucht aus dem Haus oder in die oberen Stockwerke, als die Wassermassen die von ihnen geliebte Gegenstände mit sich rissen, die sie wohl nie wieder sehen werden; ihre Ängste und Ohnmachtsgefühle gegenüber den Naturgewalten, eine Empfindung, die sie lange nicht mehr loslassen wird.

Hinzukommen die Ängste, die sie bei ihren Eltern gespürt haben und die sich, oft unmerklich, auch auf sie übertragen haben: Angst um Angehörige, Angst vor der Zukunft, wo sie doch alles verloren haben und fürchten müssen, nicht so schnell wieder auf die Beine zu kommen. Kinder spüren schnell an Blicken, kleinen Gesten und unausgesprochenen Sätzen, wenn in ihrer Umgebung irgendetwas „nicht stimmt“.

Um diese Kinder müssen wir uns jetzt kümmern. Ein einfaches „Zurück zur Normalität“ gibt es für sie nicht. Erneut können ihre Ängste von eigentlich ungefährlichen Anlässen hervorgerufen werden, etwa, wenn ein Gewitter aufzieht, wenn Starkregen einsetzt oder sie die von ihnen erlebte Situation in den Bildern der Medien wiedererkennen. Dann bekommen sie Panikattacken, die Kleinen klammern sich an ihre Eltern, auch an ihre Erzieherinnen und Erzieher. Auch ältere Kinder würden sich im Rückblick auf das, was mit ihnen geschehen ist, manchmal am liebsten vor allem verkriechen und verstecken. Der erlittene materielle Verlust ihrer Eltern führt gerade bei ihnen zu Zukunfts- und Verlustängsten.

Manchen dieser Kinder verschlägt es buchstäblich die Sprache, sie verstummen zeitweilig, andere werden aus Verzweiflung, ihre Ängste nicht vertreiben zu können, aggressiv oder zeigen autoaggressive Impulse. Diese Kinder und ihre Reaktionen auf das Geschehene gilt es zunächst so anzunehmen, wie sie sind. Wir müssen ihnen Gehör schenken, wenn sie über das Erlebte sprechen. Ihnen in Kita und Schule, aber auch zu Hause dazu Anknüpfungspunkte bieten, über das Geschehene sprechen, was ihnen oft schwerfällt, weil es bei neuerlich Ängste hervorruft. Es ist wichtig, dass sie ihre Gefühle jetzt sei es in Bildern oder sprachlich zum Ausdruck bringen können. Das erfordert Geduld und Zeit, die wir uns jetzt mit ihnen nehmen müssen. Manche dieser Kinder brauchen darüber hinaus psychosoziale Unterstützung und Therapieangebote.

Aber auch Kinder, die nicht direkt betroffen waren, bekommen die Bilder reißender Fluten, die sich durch die Straßen wälzten, die Aufnahmen umherschwimmender Autos und zerstörter Landschaften und Häuser nicht aus dem Kopf. Haben von Menschen gehört, die ertrunken sind. Auch mit ihnen sollten wir reden. Darüber, was sie beim Sehen der Bilder empfunden haben, ob sie jemanden gekannt haben, der dort wohnte, ob sie auch selbst Angst bekommen haben. Im Stuhlkreis in der Kita, im Unterricht. Kinder kann man vor schlechten Nachrichten nicht schützen, aber über sie zu reden hilft. Über ihre Empfindungen, über eigene Ängste, die vielleicht mit etwas ganz anderem zu tun haben. Und auch über ihre Ideen, wie sich solche Katastrophen in Zukunft vielleicht verhindern lassen. Einige von ihnen werden dabei Vorstellungen entwickeln, die manche Erwachsene, die möglichst schnell wieder zurück zur „Tagesordnung“ übergehen wollen, nicht so gerne hören. Zum Beispiel wie wir die Natur und das Klima, und damit auch uns selbst in Zukunft besser schützen können. Wie wir solidarisch mit denen umgehen, die unsere Hilfe brauchen – hier bei uns und anderswo auf der Welt.

Claus Koch

Dr. phil. (Psychologie), Diplompsychologe. Bis Juli 2015 Verlagsleiter für den Bereich Sachbuch und Elternratgeber beim Beltz Verlag in Weinheim. 2015 gründete er zusammen Udo Baer das „Pädagogische Institut Berlin“ (PIB). Jahrelange wissenschaftliche Tätigkeit mit dem Schwerpunkt Entwicklungspsychologie des Kindes und Jugendlichen unter psychoanalytischen und bindungstheoretischen Gesichtspunkten, u.a. mit einem Lehrauftrag an der Universität Bielefeld. Publizist und Autor. Zahlreiche Vorträge, Buchveröffentlichungen und Artikel in Fachzeitschriften. Vorstandsmitglied des „Archiv der Zukunft“ (AdZ).

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