Klänge der Zugehörigkeit, Lieder der Sehnsucht, Teil 1-5:

Interkulturelle Musiktherapie und -pädagogik zwischen Ideal und Realität.

von Dr. Udo Baer

Erfahrungen und Konzepte interkultureller musiktherapeutischer und musikpädagogischer Arbeit mit Kindern und Jugendlichen ( 2005)

Wird der Begriff „interkulturell“ positiv verwendet, unterstellt er die Begegnung zweier oder mehrerer Kulturen und beinhaltet den Wunsch oder gar das Versprechen, dass sich diese Begegnung als fruchtbar für die Entwicklung jeder einzelnen Kultur und deren Zusammentreffen erweisen möge. Wäre dem so, bedürfe es kaum der Musiktherapie in der interkulturellen Arbeit. Wäre interkulturelle Arbeit eine Begegnung zwischen Angehörigen verschiedener in sich halbwegs stabiler Kulturen, dann käme es zu einer Begegnung der Poeten und Musikerinnen, der Sängerinnen und Künstler. Wozu dann Musiktherapie?

Und doch ist Musiktherapie notwendig, finden Musiktherapeutinnen in der so genannten interkulturellen Arbeit ein wichtiges Betätigungsfeld. Der Sinn ergibt sich daraus, dass sich nur selten Vertreter verschiedener Kulturen „interkulturell“ außerhalb der Kultur-Festivals begegnen. In den therapeutischen Praxen, in den Kliniken, in den Kindertagesstätten, in den Jugendzentren und anderen Orten, an denen Musiktherapeut/innen tätig sind, ist das Ideal interkultureller Begegnung kaum anzutreffen. Hier geht es eher darum, wie Migranten und Migrantinnen der ersten, zweiten und dritten Generation sich und ihre Welt erleben und wie sie darunter leiden:

  • Eine Kollegin wurde engagiert, um eine musiktherapeutische Gruppe in einem Jugendzentrum anzubieten. Dies unter dem Stichwort: Multikulturelle Begegnung. Sie bereitete sich darauf vor, musikalisch Begegnungen deutscher Kultur und der Kultur der Migrantinnen zu ermöglichen. Sie traf auf jugendliche Einwanderer der zweiten Generation vor allem aus der Türkei und arabischen Ländern, die überwiegend in Deutschland geboren waren, aber zumeist schlechter Deutsch sprachen als ihre Eltern. Der „Multikulti“-Gruppe gehörte niemand an, der in deutscher Muttersprache aufgewachsen war.
  • Eine Gruppe von Kindern, mit denen ich im Rahmen eines Projektes musiktherapeutisch gearbeitet habe, wies als hervorstechendes Merkmal kultureller Identität deren Fehlen auf. Die Kultur ihres Heimatlandes, überwiegend der Türkei, kannten sie nur aus dem türkischen Fernsehen. Die deutsche Kultur bestand, so wie sie sie im Kindergarten und Grundschule kennen gelernt hatten, vor allem in der weihnachtlichen Christusgeschichte und dem Osterhasen. Vertrauter waren „Coca-Cola“ und „Mc Donalds“, „Harry Potter“ und „Der Krieg der Sterne“.
  • Eine Klientin war aufgrund ihrer großen Sehnsucht nach ihrer süditalienischen Heimat dorthin zurückgekehrt. Nachdem sie in ihrem Heimatdorf zwei Jahre lang als „Deutsche“ ausgegrenzt worden war, kehrte sie wieder zurück, leidend unter dem Grundgefühl des Verlorenseins.
  • Um sich verloren zu fühlen, muss man zumindest eine Ahnung haben, dass man etwas verloren hat und was einem fehlt. Jugendliche Klientinnen und Klienten leiden weniger unter dem Verlorensein (weil sie diese Ahnung nicht haben), sondern unter Leere, Haltlosigkeit und Fremdheitsgefühlen. Dass dieses Erleben in Verzweiflung und Gewalttätigkeit gegen sich und andere umschlagen kann, ist bekannt. Sie leiden nicht an mangelnder Begegnung mit anderen Kulturen, sondern an mangelnder und fehlender Zugehörigkeit zu irgendeiner Kultur.

Interkulturelle Begegnungen sind wünschenswert und Musik kann zwischen Kulturen übersetzen und so Begegnung fördern. Jedoch ist es notwendig, über diese Einsicht hinaus die Phänomene der Realität konkret und unideologisch zu betrachten. Das gilt für die Umstände, unter denen Musiktherapeutinnen mit Migrantinnen arbeiten, oder für die Themen, die sich aus der Begegnung unter und mit Migrant/innen ergeben. Insbesondere müssen wir darauf schauen, welche Aspekte kultureller Zugehörigkeit überhaupt vorhanden sind und wie sie sich darauf auswirken, wie die Menschen sich und ihre Umwelt erleben. Musiktherapeutinnen dürfen sich nicht an einem biologisch geprägten Kulturbegriff orientieren, der unterstellt, nur weil die Eltern einer Person in der Türkei geboren sind, wäre er als Angehöriger einer türkischen Kultur zu bezeichnen. Kultur ist ein Ensemble aus gemeinsamer Sprache, gemeinsamen Werten, gemeinsamer Geschichte, gemeinsamer Verhaltensnormen usw. Die wichtigste diagnostische Haltung, die ich in der so genannten interkulturellen Arbeit gelernt habe, besteht darin, von allen kulturelle ideologischen Unterstellungen abzulassen und vorgegebene kulturelle Zuordnungen in jedem Einzelfall zu hinterfragen.

In den folgenden Beiträgen werde ich einige musiktherapeutische Methoden, die sich in der Arbeit mit Migrantinnen und Migranten bewährt haben kurz vorstellen und dabei den jeweiligen Erlebenskontext skizzieren, in dem sie sich als nützlich erwiesen haben. Dabei stütze ich mich auf eigene Erfahrungen sowie auf Erfahrungen mehrere Kolleginnen und Kollegen in Projekten der Zukunftswerkstatt therapie kreativ oder des Instituts für soziale Innovationen

Klänge der Zugehörigkeit, Lieder der Sehnsucht, Teil 2: Der Subtext der Resignation

on Dr. Udo Baer

Erfahrungen und Konzepte interkultureller musiktherapeutischer und musikpädagogischer Arbeit mit Kindern und Jugendlichen (2005)

In der musiktherapeutischen Arbeit mit Migrantinnen und deren Kindern begegnen wir viel Resignation. Manchmal ist die Resignation getarnt mit ihrem Gegenteil, also mit übermütigem, jedoch bodenlosem Tatendrang und unrealistischen Projekten („Was ich alles machen würde, wenn …“). Ihr häufigster Ausdruck ist Melancholie. Oft bleiben Migrantinnen in dem, was sie bewegt, in der Vergangenheit stecken oder träumen von unerreichbaren Zukunftsvisionen, geben schließlich auf und verlagern ihre Träume auf die nächste Generation.

Diese Melancholie beinträchtigt die Beziehungen der Mütter zu ihren Kindern. Sie kann sich wie ein Schleier über die ganze Familie legen. Manche Kinder rebellieren dagegen, andere lassen sich anstecken.

Bei vielen türkischstämmigen Frauen und Mädchen ist dies sehr verbreitet und begegnet uns in der Einzel- und Gruppenarbeit immer wieder. Solche Stimmungen wie die Resignation enthalten, wie andere Gefühle oder Befindlichkeiten auch, oft einen darunter verborgenen Subtext, der über die eigene Resonanz der Therapeutin oder Pädagogin spürbar wird oder in länger andauernden musikalischen Improvisationen zu Tage tritt. Dieser Subtext ist die melancholische Sehnsucht, die Wehmut, die von vielen Klientinnen als „herzzerreißend“ beschrieben wird, ohne damit zu übertreiben. Die herzzerreißende Wehmut, diese rückwärtsgewandte Sehnsucht blockiert Handeln und Tatendrang. Erst wenn sie Ausdruck findet ist sie veränderbar. Welch besseren Ausdruck kann sie finden als einen musikalischen? Sie erklingt in der Improvisation, in Liedern der Heimat und Herzklängen jeder Art. Eine Klientin spielte ein „Ständchen“, ein gerichtetes Musizieren (s. Baer/Frick-Baer 2004), für den Berg, an dessen Hang ihr Heimatdorf liegt, eine andere komponierte ein Lied der Sehnsucht, dass alles wieder so wäre, wie es früher war. Erst als das rückwärtsgewandte Sehnen erklingen konnte und damit erlebbar und hörbar geworden war, konnten auch Klänge entstehen, die die Gegenwart und deren Veränderung betrafen.

Klänge der Zugehörigkeit, Lieder der Sehnsucht, Teil 3: Wie klingt Ehre?

von Dr. Udo Baer

Erfahrungen und Konzepte interkultureller musiktherapeutischer und musikpädagogischer Arbeit mit Kindern und Jugendlichen (2005)

Mehmed aus dem Kosovo wusste, was Ehre ist und was nicht. Die Ehre ist für viele Migranten ein Relikt aus vorgerichtlichen und vorstaatlichen Zeiten, eine Norm des Handelns bei Grenzverletzungen und der Rache wegen Ehrverletzung, also der Ausübung von Gerechtigkeit, wenn es keine oder nur korrupte Staats- und damit auch Gerichtsorgane gibt.

Mehmed macht eine Ausbildung als Maurer und lebt mit seiner Familie im Ruhrgebiet. Für ihn klang Ehre, als er sie musikalisch ausdrückte, als stabiler Rhythmus auf der Trommel, beim Spielen allmählich leiser werdend. „Ehre ist wichtig, das ist doch klar. Sie ist notwendig, weil ich Albaner bin. Aber sie ist nicht mehr so wichtig, weil es hier ja auch Gerichte gibt und weil man ja hier auch geschützt wird.“ Sein Kumpel ist Sadik, den er begleitet hatte, um einen Weg zu finden, einer drohenden Gefängnisstrafe zu entgehen. Sadik war anfangs nicht in der Lage, seine Ehre erklingen zu lassen, obwohl er wegen eines so genannten „Ehrvergehens“ gegen einen deutsch-stämmigen Jugendlichen vor Gericht stand.

Doch der scheinbar interkulturelle Konflikt erwies sich als intrakultureller Konflikt. Für Sadik war nicht wirklich die Ehre das Problem, sondern dass die Ehre eine Hülle geworden war, die er nicht füllen und nicht fühlen konnte. Er spielte schließlich auf einer Trommel die Ehre in lauten Crescendos und meinte, dass sei sicherlich die Ehre, wie sie sein Vater, der die Familie vor einigen Jahren verlassen hatte, erklingen lassen würde. Mit Sadik entwickelte sich eine musiktherapeutische Arbeit, in der es darum ging, einen eigenen Ehrbegriff zu entwickeln. Es entstand ein musikalisches Puzzle aus dem, was Sadik an anderen Menschen respektierte, und von dem er träumte,  dass er dafür selbst Respekt verlangen konnte. Aus einem entleerten, ursprünglich sozialen Ehrbegriff wurde ein individueller, der wiederum soziales Handeln beeinflussen konnte.

Klänge der Zugehörigkeit, Lieder der Sehnsucht, Teil 4: Vom Greifen zum Klingen

von Dr. Udo Baer

Erfahrungen und Konzepte interkultureller musiktherapeutischer und musikpädagogischer Arbeit mit Kindern und Jugendlichen (2005)

Mit einer Gruppe arbeitsloser junger Männer aus verschiedenen ost- und südeuropäischen Ländern, überwiegend Aussiedlern aus Staaten der ehemaligen Sowjetunion, soll musiktherapeutisch oder musikpädagogisch gearbeitet werden. Singen wollen sie nicht („kindisch“), die angebotenen Musikinstrumente ignorieren sie („doof). Die jungen Männer sind halt- und wurzellos und von tiefen Leereerfahrungen geprägt.

Menschen, die Halt suchen, greifen nach anderen Menschen, um sich irgendwo festhalten zu können. Das machen Kinder ebenso wie Jugendliche oder Erwachsene. Doch greifen Menschen wiederholt ins Leere, resignieren sie und sie richten sich ein in der Haltlosigkeit. Das Greifen ist eine Primäre Leibbewegung, primär im doppelten Sinn: Es gehört neben dem Tönen, Schauen, Drücken und Lehnen zu den Bewegungen des Erlebens, die für jeden Menschen von grundlegender Bedeutung sind, und es gehört zu den primären im Sinne von frühen Regungen und Bewegungen, mit denen ein Mensch in die Welt hineingeht und als Säugling erste Schritte unternimmt, die Welt zu erschließen und zu be-greifen. Wenn Menschen sehr haltlos sind und sehr verloren wirken, dann führt der Weg, überhaupt musikalisch und musiktherapeutisch mit ihnen arbeiten zu können, oft über das Greifen.

In dem Projekt mit der erwähnten Gruppe arbeitsloser junger Männer begann dieser Weg wie in vielen ähnlichen Konstellationen damit, gemeinsam etwas zu bauen. Hier wurden aus Ölfässern Trommeln gebaut und aus Holzstücken und anderen Reststücken Schlegel. Die Fässer wurden gerichtet und bemalt. Darüber, dass jeder an seiner eigenen Trommel arbeitete und dabei auch erste Erfahrungen der Zusammenarbeit möglich wurden, entstanden buchstäbliche Erfahrungen des Greifens und des Haltes. Auf den Trommeln wurde gespielt, es entstanden strukturierte und nach und nach halboffene Rhythmussessions. Das Wort Musiktherapie oder Musikpädagogik wurde kein einziges Mal erwähnt und gleichwohl war dies eine erfolgreiche musiktherapeutische und musikpädagogische Gruppenarbeit.

Klänge der Zugehörigkeit, Lieder der Sehnsucht, Teil 5: Rhythmus, um zuhören zu lernen.

von Dr. Udo Baer

Erfahrungen und Konzepte interkultureller musiktherapeutischer und musikpädagogischer Arbeit mit Kindern und Jugendlichen (2005)

Für eine Gruppe von Kindern der Sinti und Roma im Grundschulalter wird im Rahmen einer Stiftungsaktivität eine musikpädagogische Gruppe angeboten. Es stehen Rhythmusinstrumente zur Verfügung, zum Teil solche aus der Tradition der Sinti und Roma. Die Kinder laufen am Anfang chaotisch durcheinander, klettern durch das Fenster, verlassen durch die Fenster den Raum, kommen und gehen. Jeder Satz, den sie äußern, enthält zahlreiche Schimpfwörter. Die beiden Gruppenleiter/innen werden getestet, ob sie das aushalten oder ob sie auch weggehen, wie alle anderen, die die Kinder verloren haben, und ob auch sie scheitern und für das Scheitern die Kinder verantwortlich machen.

Leiterin und Leiter verschwinden nicht, sondern bleiben hartnäckig, kommen immer wieder, teilen ihre Rhythmusinstrumente aus und beginnen zu trommeln. Die Trommel der Leiterin und des Leiters ertönen und sie werden zum Orientierungspunkt, zum Rhythmus, an dem sich die Kinder orientieren können. Hier entsteht keine freie Improvisation, denn diese setzt einen Boden voraus, hier gelingt nicht einmal ein strukturiertes Zusammenspiel, denn die Fähigkeit des Zusammenspiels ist den Kindern verloren gegangen, wenn sie je entwickelt worden war. Kinder, die mit ihren Impulsen in die Leere gehen, Kinder, die keine Resonanz erfahren außer Schläge, Abwertung und Diskriminierung, Kinder, die nicht gehört werden, können anderen nicht zuhören. Wie sollen sie sich da rhythmisch aufeinander einstimmen, wie sollen sie da musikalisch in Dialog treten können? Um diese Fähigkeiten wieder bzw. neu zu entwickeln, bedarf es zuerst einmal einer klaren und selbstsicheren Präsenz, die geduldig ist und offen, nicht diktatorisch, aber hörbar.
Das ist in dieser Gruppe der Rhythmus der Leiterin und des Leiters. Zu jeder Gruppen-Stunde kommen sie in den Raum, stellen den Kindern Instrumente zur Verfügung und beginnen zu spielen. Sie bieten ihren Rhythmus an und damit Orientierung. Ihr Rhythmus sagt: „Ich bin da und ich lade ein mitzuklingen und mitzuspielen. Ich bin hörbar und ich möchte euch hören.“ Sobald andere mitspielen und ihre Klänge einbringen, versuchen die beiden, darauf einzugehen und deren Variationen in den Grundrhythmus mit einzubeziehen. Und siehe da, allmählich wird der Rhythmus zum Kristallisationspunkt.

Nach einem halben Jahr kommt eine feste Gruppe von Kindern halbwegs regelmäßig und von Monat zu Monat wächst der Boden, auf dem gemeinsam gespielt werden kann. Der Rhythmus wird zum Grund, auf dem Kinder hörbar werden und erhört werden – zumindest eine Stunde in jeder Woche.

Udo Baer

Dr. phil. (Gesundheitswissenschaften), Diplom-Pädagoge, Kreativer Leibtherapeut AKL, Mitbegründer und Wissenschaftlicher Berater der Zukunftswerkstatt therapie kreativ, Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für soziale Innovationen (ISI) sowie des Instituts für Gerontopsychiatrie (IGP), Vorsitzender der Stiftung Würde, Mitinhaber des Pädagogischen Instituts Berlin (PIB), Autor

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