Seit 70 Jahren kennen die Menschen in Deutschland und anderen wohlhabenden Ländern Europas keinen Krieg, und es sind nun schon drei Generationen, die in ihrem Leben Frieden und Wohlstand erfahren haben – verglichen mit früheren Generationen ein fast unglaublich anmutendes Geschenk. Dass sich Menschen, die vor Krieg und unmenschlicher Gewalt in ihren Ländern flüchten, zu uns aufmachen und dabei ihr und das Leben ihrer Kinder riskieren, ist nur allzu verständlich. Die meisten von uns würden an ihrer Stelle wohl ähnlich handeln.
Wir als Eltern stehen dabei vor einer Aufgabe, die wir bislang so noch nicht kannten und neu lernen müssen: Wie Kindern von Krieg, Flucht und Terror erzählen, wenn alles jetzt nicht mehr nur weit weg von uns, sondern geradewegs vor der Haustür stattfindet?
Was die Flüchtlinge betrifft, die jetzt unsere Hilfe und Unterstützung brauchen, sollten uns die Gespräche mit unseren Kindern nicht schwer fallen. Auch deswegen, weil Kinder von Geburt an hilfreiche und sehr soziale Wesen sind. Schon mit einem Jahr, das zeigen wissenschaftliche Untersuchungen, haben sie ein Gespür für das, was richtig oder „fair“ ist. Darüber hinaus trösten Kinder ihre kleinen Kameraden schon im Kindergartenalter oder geben dem Kind, das gerade besonders unglücklich ausschaut, gerne etwas von sich ab, ein Spielzeug, etwas Süßes. Man muss sie nicht einmal darum bitten, sie tun es ganz von sich allein. Außer sie haben schon früh erwachsene „Vorbilder“, denen Mitgefühl und soziales Verhalten fremd sind. Nehmen Sie Ihre Kinder also mit in die Flüchtlingsunterkünfte, wenn Sie dort Kleidung oder etwas zu essen hinbringen. Beteiligen Sie Ihre Kinder an den Gesprächen, die Sie dort führen. Vielleicht erzählt die eine Mutter oder der andere Vater, vielleicht sogar die Kinder (mit Übersetzerin) selbst von ihrer Flucht, darüber, warum sie zu uns gekommen sind, ohne Hab und Gut, nur mit der Hoffnung auf eines besseres Leben als dort, von wo sie zu uns aufgebrochen sind. Kinder begreifen das Schicksal der anderen schnell und ohne Hintergedanken, die uns rechte Rattenfänger versuchen, in verschiedenen Versionen schmackhaft zu machen. Kinder sind neugierig und wollen wissen, was um sie herum geschieht. Das schönste wäre natürlich, sie könnten auch das eine oder andere Flüchtlingskind zusammen mit seiner Familie einmal zu sich einladen. Gelebte Willkommenskultur, die schon überall in Deutschland stattfindet!
Aber es kommen nicht nur die Flüchtlinge zu uns, sondern auch die Mörder, vor denen sie geflohen sind, manchmal sind sie schon lange inmitten von uns aufgewachsen. Ihr Hass auf unser Leben und unsere Gesellschaft ist grenzenlos und sie wollen töten. Egal wen, das haben sie vielerorts bewiesen, zuletzt mit den Anschlägen in Paris. Und so einfach es ist, unseren Kinder das Schicksal der Flüchtlinge näher zu bringen und damit ihr Mitgefühl zu wecken, so schwierig ist es, mit ihnen über den Terror und diejenigen, die ihn ausführen, zu sprechen. Vielleicht weil wir selbst das menschlich Böse, das sich im Terrorismus offenbart, nicht so genau verstehen. Oder nicht verstehen wollen, obwohl wir doch wissen, dass es dieses Böse, dieses Menschenverachtende in der Geschichte immer schon gegeben hat, auch in der jüngsten Geschichte der Deutschen, die ja noch gar nicht so lange zurückliegt. Wie den Kindern den Terror und das mit ihm verbundene Böse erklären ohne unbegründete Ängste zu wecken und ohne es zu dämonisieren? Oder sollten wir es ihnen verschweigen, wie manche zurzeit meinen? Aus der Angst heraus, unseren Kindern Angst zu machen?
Ihnen den Terror zu verschweigen, wäre ein Fehler. Und vergebliche Mühe. Kinder jeden Alters bekommen nämlich viel mehr mit, als manche Erwachsene ahnen. Sie fahren ihre Antennen aus, wann immer sich in ihrer Umgebung etwas ändert und sei es nur der Ton. Ständig beobachten sie ihre Eltern oder nahen Bezugspersonen, weil sie noch so abhängig von uns sind, ganz besonders die jüngeren. Haben wir Angst, bekommen sie Angst. Zeigen wir uns hilflos, fühlen sie sich hilflos. Da kann man nichts machen, das ist so. Sich ihnen gegenüber zu verstellen funktioniert nicht, das durchblicken sie schnell! Also offen mit unseren Gefühlen umgehen und sie auch unseren Kindern gegenüber mitteilen, altersgemäß und ohne sie ihnen aufzudrängen. Die eigene Ohnmacht und das eigene Nichtwissen auch mal zugeben. Sie an unserem Leben einfach teilhaben lassen. Kinder werden auch von selbst Fragen stellen, nach dem, was in Paris oder sonst wo auf der Welt geschieht, aber sie tun es nur, wenn sie gewohnt sind, ehrliche Antworten zu bekommen. Sonst verstummen sie und machen sich ihren eigenen Reim aus dem, was sie beobachten. Mogeln gilt nicht.
Man muss ihnen den Terror nicht mit großen Worten erklären. Wenn wir selbst kaum verstehen, warum Menschen anderen Menschen den Kopf abschlagen, in Mali oder Nigeria stellvertretend für sich 7-Jährige mit einem Sprengstoffgürtel auf einen belebten Wochenmarkt schicken, wie sollen unsere Kinder das verstehen? Aber ein offenes Ohr für ihre Fragen sollten wir schon haben. Und ihnen ehrlich antworten, dass auch wir oft nicht verstehen können, wie und warum Menschen bei einem Rockkonzert ein Blutbad anrichten. Das es aber passiert. Und auch wieder passieren kann. Aber mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit nicht in unserer Nachbarschaft, in ihrem Kindergarten oder in ihrer Schule. Ihnen zu verheimlichen, dass es diesen Terror gibt, steigert nur ihre Fantasie. Und sie stellen sich selbst komische Fragen, warum wir ihnen nichts davon gesagt haben, wenn sie es dann von anderen erfahren. Dann legt ihre Fantasie erst richtig los: Haben mir meine Eltern das verschwiegen, weil sie damit rechnen, dass es mir morgen im Kindergarten oder in der Schule auch passiert? Vielleicht sind der Onkel oder die Tante jetzt auch schon tot? Die fahren doch so oft nach Paris. Haben sie deswegen schon seit Tagen nicht mehr von sich hören lassen?
Wir müssen und sollten mit Kindern über den Terror, der jetzt endgültig auch bei uns angekommen ist, sprechen. Selbstbewusst. Das wir uns eine Welt aufgebaut haben, die wir uns nicht zerstören lassen wollen. Dass die Terroristen ihr Ziel nicht erreichen werden. Dass man vielleicht in Zukunft etwas vorsichtiger sein muss, wenn man sich oft dort aufhält, wo Terroristen gerne zuschlagen. Auf Bahnhöfen, beim Fußball, also überall dort, wo viele Menschen zusammenkommen. Auch, dass wir und unsere Polizei unsere Kinder so gut, wie es geht, beschützen werden. Das können wir ihnen versprechen. Dass wir aufpassen und für sie da sind, wenn sie unsere Hilfe brauchen. Dass wir auch nicht verstehen können, warum Menschen tun, was sie in Paris getan haben. Aber das wir wissen, dass Menschen, die den Anderen respektieren und seine Würde achten, das nicht tun. Und dass wir alles dafür tun wollen, dass man so, also freundlich und mitfühlend mit anderen Menschen umgeht.