von Dr. Udo Baer
Erfahrungen und Konzepte interkultureller musiktherapeutischer und musikpädagogischer Arbeit mit Kindern und Jugendlichen (2005)
Für eine Gruppe von Kindern der Sinti und Roma im Grundschulalter wird im Rahmen einer Stiftungsaktivität eine musikpädagogische Gruppe angeboten. Es stehen Rhythmusinstrumente zur Verfügung, zum Teil solche aus der Tradition der Sinti und Roma. Die Kinder laufen am Anfang chaotisch durcheinander, klettern durch das Fenster, verlassen durch die Fenster den Raum, kommen und gehen. Jeder Satz, den sie äußern, enthält zahlreiche Schimpfwörter. Die beiden Gruppenleiter/innen werden getestet, ob sie das aushalten oder ob sie auch weggehen, wie alle anderen, die die Kinder verloren haben, und ob auch sie scheitern und für das Scheitern die Kinder verantwortlich machen.
Leiterin und Leiter verschwinden nicht, sondern bleiben hartnäckig, kommen immer wieder, teilen ihre Rhythmusinstrumente aus und beginnen zu trommeln. Die Trommel der Leiterin und des Leiters ertönen und sie werden zum Orientierungspunkt, zum Rhythmus, an dem sich die Kinder orientieren können. Hier entsteht keine freie Improvisation, denn diese setzt einen Boden voraus, hier gelingt nicht einmal ein strukturiertes Zusammenspiel, denn die Fähigkeit des Zusammenspiels ist den Kindern verloren gegangen, wenn sie je entwickelt worden war. Kinder, die mit ihren Impulsen in die Leere gehen, Kinder, die keine Resonanz erfahren außer Schläge, Abwertung und Diskriminierung, Kinder, die nicht gehört werden, können anderen nicht zuhören. Wie sollen sie sich da rhythmisch aufeinander einstimmen, wie sollen sie da musikalisch in Dialog treten können? Um diese Fähigkeiten wieder bzw. neu zu entwickeln, bedarf es zuerst einmal einer klaren und selbstsicheren Präsenz, die geduldig ist und offen, nicht diktatorisch, aber hörbar.
Das ist in dieser Gruppe der Rhythmus der Leiterin und des Leiters. Zu jeder Gruppen-Stunde kommen sie in den Raum, stellen den Kindern Instrumente zur Verfügung und beginnen zu spielen. Sie bieten ihren Rhythmus an und damit Orientierung. Ihr Rhythmus sagt: „Ich bin da und ich lade ein mitzuklingen und mitzuspielen. Ich bin hörbar und ich möchte euch hören.“ Sobald andere mitspielen und ihre Klänge einbringen, versuchen die beiden, darauf einzugehen und deren Variationen in den Grundrhythmus mit einzubeziehen. Und siehe da, allmählich wird der Rhythmus zum Kristallisationspunkt.
Nach einem halben Jahr kommt eine feste Gruppe von Kindern halbwegs regelmäßig und von Monat zu Monat wächst der Boden, auf dem gemeinsam gespielt werden kann. Der Rhythmus wird zum Grund, auf dem Kinder hörbar werden und erhört werden – zumindest eine Stunde in jeder Woche.