von Dr. Udo Baer
Als der Kölner Psychiater Michael Winterhoff 2008 sein Buch veröffentlichte, in dem er zahlreiche Kinder als „Tyrannen“ oder „Monster“ beschimpfte, war die Aufregung groß. Auf der einen Seite wandten sich viele, Pädagog*innen, Psycholog*innen, Therapeut*innen, aber auch Eltern gegen seine Thesen, auf der anderen Seite wurde er in den Massenmedien hochgejubelt und von einer Talkshow zur nächsten gereicht. Nun haben mehrere Kinder in dem kürzlich ausgestrahlten ARD-Film „Warum Kinder keine Tyrannen sind“ erstmals über die Folgen ihrer Behandlung bei Michael Winterhoff gesprochen und auch ihre Eltern haben sich dazu vor der Kamera geäußert. Die Presse hat das Thema aufgegriffen, es gibt bereits Strafanzeigen und Ermittlungen, Abgründe haben sich aufgetan. Diese Entwicklung wirft ein Scheinwerferlicht auf die Auseinandersetzungen um die Kinderwürde – wie sie geführt werden sollte und wie nicht. Dazu fünf Überlegungen:
- Als damals die Diskussion begann, war ich zunächst verwirrt. Ja, der abwertende Tenor des Winterhoff-Buches gegenüber Kindern und Eltern störte und empörte mich, doch die Debatten, zum Beispiel in einem Spiegel-Streitgespräch, schienen aneinander vorbei zu gehen. Winterhoff wiederholte immer wieder, dass Kindern nicht wie Erwachsene, sondern kindgerecht begegnet werden müsse – ja klar, was denn sonst – und klare Rahmenbedingungen und Vorgaben bräuchten. Andere betonten, dass Kinder vor allem Empathie, Einfühlungsvermögen und respektvolle Fürsorge benötigten. Beide hatten auf dieser Ebene Recht. In unserem Tridentitätskonzept beschreiben wir, dass Kinder für ihre Identitätsentwicklung Nahrung (emotionale und geistige), Spiegel (Feedback) und klare Gegenüber brauchen: UND, nicht entweder-oder.
- Doch schon damals war klar, dass hinter den Positionen von Michael Winterhoff schwarze Pädagogik steckte. Es beschimpfte Eltern, die angeblich Kinder verhätschelten und in ihnen einen Partnerersatz sahen. Er betonte die Notwendigkeit von Strafen. Schon die Wortwahl „Tyrannen“ und „Monster“ sprach Bände. Schwarze Pädagogik, die mit Strenge, Strafen und Anordnungen Kinder und Jugendliche „erziehen“ oder besser dressieren will, steht im diametralen Gegensatz zur Kinderwürde.
- Ja, es gibt Kinder, die haltlos sind, die maßlos aggressiv werden, die auf nichts und niemanden mehr hören, die manipulieren und herrschen wollen. Solche Kinder und Jugendliche brauchen Halt und klare Gegenüber. Doch diese Kinder sind in Not, oft in tiefer, verzweifelter Not. Sie haben fast immer massive Gewalterfahrungen, vor allem sind sie in vieler Hinsicht mit ihren Äußerungen und Impulsen ins Leere gelaufen. Wenn die ausgestreckte Hand niemanden ergreift, wenn die Stimme der Kinder überhört oder übertönt wird, wenn sie übersehen werden, wenn sie niemanden haben, an den sie sich halten können und der ihnen Halt gibt – dann entsteht Verzweiflung, die sich in Haltlosigkeit und Maßlosigkeit äußert. Wer nur die Oberfläche, die Grenzverletzungen solcher Kinder sieht und nicht auch die Not, die sich dahinter verbirgt, der setzt ihre Entwürdigung fort. Das propagierte Michael Winterhoff.
- Nun wird deutlich, dass Entwürdigung und schwarze Pädagogik, auch wenn sie sich als Kinderpsychiatrie tarnt, in Gewalt umschlägt. Michael Winterhoff betrieb eine Praxis und betreute gleichzeitig zahlreiche Kinder in Einrichtungen der Jugendhilfe. Immer wieder „diagnostizierte“ er die Kinder nach einer Einheitsdiagnose, die er selbst erfunden hatte. Das wurde akzeptiert. Den Kindern verschrieb er jahrelang das Neuroleptikum Pimpamperon, das nach Ansichten von Experten nur bei schweren Psychosen und Erregungszuständen verabreicht werden sollte. Die Kinder aber stellte das Präparat ruhig und ließ sie nach eigener Beschreibung willenlos werden. Und das nach jeweils einem kurzen Gespräch mit den Kindern und offenbar manchmal auch ohne die notwendige Einwilligung von Erziehungsberechtigten, wie einige berichteten. Das ist Gewalt.
- Dass sich nun betroffene Kinder, die mittlerweile erwachsen sind, und Eltern dagegen auflehnen, ist großartig. Nachdem dies an die Öffentlichkeit kam, wird bereits von einigen Jugendämtern und anderen reagiert und die Zusammenarbeit mit Michael Winterhoff beendet. Vorherige Eingaben der Betroffenen bewirkten nichts. So hoch die Empörungswelle nun hochschwappt, so klar muss sein, dass dies kein Einzelfall ist und kein Problem des Fehlverhaltens einer einzelnen Person. In vielen Bereichen treten Menschen die Kinderwürde mit Füßen und immer wieder mündet die Entwürdigung in Erniedrigung und Gewalt. Und immer wieder gehen Proteste ins Leere.
Es braucht eine Kultur der Kinderwürde. Überall. Kinder brauchen keine Dressur, sondern Begegnung. Kinder brauchen Respekt. Kinder brauchen auch Reibung, aber keine, die sie klein macht, sondern eine, die sie wachsen lässt.
Und Kinder brauchen eine Stimme. Die Geschichte um Michael Winterhoff offenbart, dass die Sicherungen in der Psychiatrie, in der Jugendhilfe und anderen Bereichen anscheinend nicht ausreichen, um Kinder zu schützen. Deswegen brauchen Kinder Anwälte, unabhängige Ombudsmänner und -frauen, an die sie und ihnen vertraute Menschen sich wenden können und die ihren Interessen nach Würdigung nachgehen.
Danke, danke, dass du es hier so deutlich schreibst. Ich bin immer wieder entsetzt, welche Menschen auf Kinder losgelassen werden, ob in Kita, Schule, Wohneinrichtungen oder Kliniken. Da muss man aufstehen, die Stimme erheben und für diese Menschen einstehen. Ich habe es gerade wieder selber erfahren, dass die Sicherungen nicht ausreichen in manchen Einrichtungen und die Würde mit Füßen getreten wird.
Ich arbeite seit mehr als 13 Jahren in Schule und Kita. Es fällt mir immer schwerer zu ertragen, wie verletzend und entwürdigend „pädagogisches“ Personal mit Kindern umgeht. Vermutlich ist es ein Teufelskreis, aus dem es nur wenige schaffen auszusteigen. Wer selbst lieblos erzogen worden ist, geht auch lieblos mit anderen um. Die Welt kann so nicht besser werden! Die Beiträge von Udo Baer sind für mich immer wieder ein Licht am Horizont!