Keimfrei

In den 50er und 60er Jahren beherrschte eine große Welle des Bemühens um Keimfreiheit die Gesellschaft. Keimfreie Unterwäsche, keimfrei machende Waschmittel und Zahnbürsten und viele andere keimfreie Gegenstände wurden propagiert – aus Angst vor Ansteckung, aus Angst vor den bösen Bakterien. Keimfrei sollten auch die Umgangsweisen untereinander sein. Zwischen den Menschen sollte es möglichst wenig Berührung geben und nach jedem Händedruck sollte man sich die Hände waschen. Das bestimmte auch die Beziehungen zu Kindern. Auch hier war Waschen wichtiger, als jemanden herzlich in den Arm zu nehmen. Sauberkeit statt Berührung.

In den Moskauer Waisenhäusern ist die Keimfreiheit und damit der Schutz vor Ansteckung auch heute noch die offizielle Begründung dafür, dass die Kinder möglichst wenig berührt werden dürfen. Nähe ist verboten, Wärme sowieso. Die Kinder wachsen berührungslos auf und verstummen. Und dann, in und nach der Pubertät, kommen die Drogen und die Suizide …

In Deutschland schwingt die Keimfreiheit als Begründung von Berührungsverboten in veränderter Form durch die Einrichtungen, in denen Kinder begleitet werden. Hier ist es die angebliche Vorbeugung gegen sexuelle Gewalt, die als Begründung für Verbote herhalten muss. Da wird Erzieher/innen verboten, Kinder ab dem zweiten und dritten Lebensjahr auf den Schoß zu nehmen, da wird untersagt, dass Kinder umarmt werden.

Die Begründung, dass dies sexueller Gewalt vorbeugen könne, ist genauso falsch wie die Begründung, dass Keimfreiheit und Berührungsverbote Ansteckungen entgegen wirken. Das Gegenteil ist wahr. Je mehr Kinder auch mit Dreck in Verbindung kommen, desto seltener leiden sie an Allergien, desto robuster kann sich der Körper gegen Bakterien wehren. Und dass sexuelle Gewalt etwas mit körperlicher Nähe zu tun haben soll, ist ein schlechter Witz. Sexuelle Gewalt ist nicht mit pädophilen Neigungen gleichzusetzen. Bei den wegen sexuellen Missbrauchs verurteilten Straftätern liegt der Anteil von Männern mit pädophilen Neigungen bei unter 25%. Bei den Zahlen der Akte sexueller Gewalt wird der Anteil bei unter 10%, in manchen Studien sogar unter 2%, zugeordnet. In jedem Fall gilt, ob Pädophilie oder nicht: Sexuelle Gewalt kann nicht durch Näheverbote verhindert oder vermindert werden. Sexuelle Gewalt besteht in der weitaus großen Überzahl der Akte vor allem aus Gewalt und nicht oder kaum aus Sexualität. Hier geht es den Tätern darum, Macht auszuüben und Menschen, vor allem Kinder und Frauen, als Objekte zu behandeln, die unterworfen und benutzt werden. Häufig haben Täter und Täterinnen Biographien, die eigene Gewalterfahrungen, vor allem Leere und fehlenden Trost danach, beinhalten. Das entschuldigt nichts, zeigt aber: Mangelnde Näheerfahrungen können sogar fördern, dass Nähe gewaltsam gesucht und erzwungen wird.

Näheverbote sind unsinnig und sind schädlich. Wer den Kontakt und Berührungen mit Kindern verbietet, fördert Bindungslosigkeit. Kinder brauchen Nähe. Es geht nicht um die Quantität der Nähe, es geht um deren Qualität. Kinder brauchen Berührungen und Nähe, die sie respektiert und würdigt und nicht kleinmacht und benutzt. Diesen Unterschied deutlich zu machen und erfahrbar werden zu lassen, muss Gegenstand und Inhalt aller Aus- und Fortbildungen von Menschen sein, die mit Kindern, die mit Menschen arbeiten.

Udo Baer

Dr. phil. (Gesundheitswissenschaften), Diplom-Pädagoge, Kreativer Leibtherapeut AKL, Mitbegründer und Wissenschaftlicher Berater der Zukunftswerkstatt therapie kreativ, Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für soziale Innovationen (ISI) sowie des Instituts für Gerontopsychiatrie (IGP), Vorsitzender der Stiftung Würde, Mitinhaber des Pädagogischen Instituts Berlin (PIB), Autor

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