Herausfordernde Schüler

Für viele herausfordernde Kinder sind Lehrer die erste Erfahrung von stets anwesenden, zuverlässigen Erwachsenen. Darin besteht eine große Chance – wiederholen sich allerdings frühkindliche, schädliche Bindungsmuster, zum Beispiel durch Ignoranz, Ablehnung oder Zurückweisung, wird das auffällige Verhalten des herausfordernden Kindes entweder gestärkt oder das Kind resigniert.

Obwohl die herausfordernden Kinder nur einen geringen Teil der Schülerschaft ausmachen, nehmen sie einen sehr großen Teil der Aufmerksamkeit des Lehrers in Anspruch. Man könnte auch von, wie unter Pädagogen vielerorts noch üblich, „anstrengenden“,“ „störende“, „ungezogenen“ Kindern sprechen, oder von Kindern mit sozialen Problemen, Kindern mit Lernstörungen usw. sprechen – ich selbst bevorzuge den von Juul und Jensen benutzten  „herausfordernde Kinder“ (Juul/Jensen 2012), weil er ein beziehungsmäßiges Phänomen beschreibt, statt Kinder nach ihrem Verhalten zu kategorisieren und stigmatisieren. Die Verantwortung gegenüber solchen Kindern liegt immer beim Lehrer. 

Laut der KIGGS-Studie von 2013 weisen 20% der Schüler psychische Auffälligkeiten auf, zu den häufigsten zählen Essstörungen, ADHS, Angststörungen und depressive Störungen.

Gerade Kinder haben oft Schwierigkeiten, ihre Probleme so mitzuteilen, dass sie der andere versteht. Oft aus Schuld- und Schamgefühlen, häufig aber auch, weil sie in destruktive Prozesse mit ihren nächsten Bezugspersonen verwickelt sind, die sie als solche nicht anerkennen wollen, von mangelnder Aufmerksamkeit bis hin zu Vernachlässigung und Missbrauch. Auch äußere Ereignisse können über ein Kind „hereinbrechen“ und es fühlt sich unfähig, darüber zu sprechen, sei es Trennung der Eltern, der Tod eines nahestehenden Verwandten, der Wegzug eines Freundes etc. Allerdings zeigen Kinder häufig über ihr Beziehungsverhalten, zu dem sämtliche Ausdrucksmöglichkeiten von Gesten, Bewegungen bis zu sprachlichem Ausdruck zählen, dass etwas mit ihnen nicht stimmt. Unruhe, Konzentrationsmängel, Rückzug, Aggression, Streitlust, ständige Suche nach Aufmerksamkeit, Beleidigungen, Mobbing usw. usw. dienen dazu, auf sich und das Problem, welches unausgesprochen bleibt, hinzuweisen. In diesem Sinne ist jedes Verhalten sinnvoll.

Es ist Aufgabe des Lehrers, einer solch fehlgeleiteten Kommunikationsform Sinn zu geben, indem er zunächst die Integrität des Schülers wahrt, was heißt, seine – „falsche“ Ausdrucksform nicht sofort „bekämpft“, sondern sie als an ihn gerichtete Botschaft des Kindes oder Jugendlichen interpretiert und ihn oder sie damit zunächst in seiner oder ihrer aktuellen psychischen Verfassung annimmt.

Gründe für herausforderndes Verhalten aus bindungstheoretischer Sicht:

In der in den Bindungsprozess eingebetteten Kommunikation fängt das Kind an

  • etwas über sich zu lernen und Gefühle gegenüber anderen zu entwickeln
  • effektiv zu kommunizieren, es gibt und bekommt zurück
  • Vertrauen in Exploration und Lernen zu bekommen
  • Widerstandsfähigkeit gegen Ablehnung zu entwickeln, aber auch nach anderen zu suchen, wenn es Hilfe benötigt
  • Selbstwert zu entwickeln
  • sich auf andere zu beziehen

Das alles sind Kernkompetenzen, die dem Kind bei einer gesunden emotionalen Entwicklung mitgegeben werden.
Die tägliche Erfahrung verstanden zu werden und dass Ängste und Unsicherheit in Gesten und Worte transformiert werden ist der Kern dessen, was eine Mutter dem Neugeborenen und sich entwickelnden Kind anbieten kann.
Das Kind lernt mit seiner Erfahrung, bei Kummer und Unsicherheit getröstet zu werden, gleichsam „vorauszudenken“, es kann eine für es belastende Situation eine Zeit lang gut aushalten, selbst wenn es nicht sofort getröstet wird und fühlt sich dennoch beschützt und aufgehoben. Es hat das Bild der „guten Mutter“ oder des „guten Vaters“ internalisiert, weshalb es nicht gleich „handeln“ muss. Fehlt diese Sicherheit, wird meistens sofort reagiert.

Herausfordernde Kinder haben folgende Schlüsselerfahrungen gemacht, die zu vermeidenden, ambivalenten und im schlimmsten Fall sogar zu desorganisierten Bindungsmustern geführt haben:

  • Ablehnung statt Zuwendung (fehlende Feinfühligkeit der Mütter)
  • Fehlende Resonanz auf ausgesandte emotionale Signale
  • Ein Kind mit unzureichenden Resonanzerfahrungen weiß wenig oder nichts über seine eigenen Gefühle, weil sie ihm nie gespiegelt wurden. Es erwartet einfach nicht, verstanden zu werden.

Solche oder ähnliche Erfahrungen haben u.a. zur Folge:

  • tiefsitzendes Misstrauen gegenüber Erwachsenen
  • Verhalten, das nur auf Kampf oder Flucht geeicht ist mit wenig anderen Verhaltensoptionen, wenn die Kinder sich unsicher oder ängstlich fühlen
  • unverarbeitete Traumata
  • wenig Bewusstsein für die eigenen Gefühle oder die anderer
  • einen verwirrten Sinn von dem was richtig und falsch, wahr und unwahr ist
  • Stark erhöhte Vigilanz (immer auf der Hut sein), um sich gegen Unsicherheit und vor Risiken zu schützen
  • Ein Gefühl der Herabsetzung und Wertlosigkeit, für niemanden zu zählen
  • Ein tiefer Verlust von Selbstrespekt
  • Das Bedürfnis, Angst und Furcht zu verleugnen und die Kontrolle im Anblick von Unzuverlässigkeit und tiefer Ungewissheit zu behalten – omnipotentes Verhalten

Mit all diesen Gefühlen kommen die Kinder in der Schule an – und verhalten sich entsprechend:

  • Draufgängerisches Verhalten, Ängste und Unsicherheiten werden verleugnet
  • Herumlaufen, nicht still sitzen zu können, aus Angst, hilflos bei einem möglichen Angriff zu sein
  • Herumlaufen, aggressives Verhalten, um von inneren Ängste abzulenken
  • Immer beobachten, was gerade in der Klasse passiert – dabei große Probleme, dem Lehrer zuzuhören
  • Abwesenheit von Vertrauen und Respekt für Erwachsene und die Autorität, die sie repräsentieren
  • Reaktives und konfrontatives Verhalten
  • Extreme Sensitivität, wenn sie Erniedrigung erfahren oder Fehler machen, die meistens in Aggression umschlägt
  • Sich nicht in andere hineinversetzen zu können
  • Ablehnung und Zurückweisung werden zu Triggern für frühere Verhaltensweisen
  • Unfähigkeit, Nichtwissen zu tolerieren (Unsicherheit)
  • Sich nicht vorstellen können, dass andere wirklich für sie da sind und wenn, dieser Erfahrung nicht zu trauen.
  • Von anderen etwas zu „lernen“ geht nicht, auch nicht, dass andere mir positiv etwas „beibringen“.
  • Schreibblock, aus Angst, etwas von sich mitzuteilen
  • Die Abwesenheit von Vertrauen in die Unterstützung eines Erwachsenen unterstützt die Furcht, sich im Lernen zu engagieren, besonders wenn es unbekannt ist (Angst) oder sogar die eigene Gefühlsebene anspricht – woraus sich regelrechte Lernhemmungen ergeben können und letztendlich sozialer Ausschluss.

Beispiele:

  • Schulleistungen: Das Kind will einen Konflikt (zum Beispiel Verlust, Trennung) nicht zeigen bzw. es hat Angst, von seinen Gefühlen überwältigt zu werden, und weigert sich zu schreiben, dafür ist es gut in Mathe.
  • Trennung vom Vater. Manchmal sind Familien nicht in der Lage oder unwillig, wichtige Ereignisse, zum Beispiel eine Trennung, zu besprechen, und die Kinder haben Gefühle, die sie nicht ausdrücken können, die sie aber beherrschen und verwirren. Abwesenheit im Unterricht, Reizbarkeit, ohne das Außenstehende den Grund dafür erkennen können, usw.
  • Fall: Ständiges Herumwandern in der Klasse. Grund: Von einem Familiengeheimnis erfahren. Das Kind will seine Mutter beschützen. Herumzuwandern drückt seine Sorgen und Ängste um die Mutter aus, um das, was außerhalb der Schule passiert, in seiner „anderen“ Welt.
  • Verhalten kann eine Form von Kommunikation über eine unverarbeitete Erfahrung sein und den Schlüssel zum Verständnis sein:  Der Mobber erzählt uns vielleicht etwas darüber, selbst Opfer eines anderen zu sein. Mobben kann auch Angst ausdrücken.
  • Der Schüler, der sich über die Fehler der anderen ständig lustig macht will uns vielleicht etwas darüber sagen, wie es sich anfühlt, von anderen ausgelacht und erniedrigt zu werden.
  • Ein Schüler greift scheinbar grundlos andere an und erinnert damit an eigenen, nicht erarbeiteten Stress.
  • Der Junge, der überall seinen Namen als Graffiti hinterlässt sucht vielleicht nach Identität.
  • Das hyperaufmerksame Mädchen wurde missbraucht.
  • Kinder geraten in Wut um sich vor Gefühlen von kindlicher Vulnerabilität zu schützen.

Verhält sich der Pädagoge verlässlich und responsiv, steht sie oder er die vielen Krisen und Gefühlsausbrüche des Kindes mit ihm durch und versteht dabei, sein Grenzen setzendes Verhalten  Bindungsgesichtspunkten unterzuordnen, was bedeutet, das Kind zunächst in seinem So-Sein anzuerkennen und ihm das Gefühl zu geben, nicht verlassen zu werden, kann ein Kind ein neues, internales Arbeitsmodell  von Beziehung aufbauen. Gerade Provokationen und aggressives Verhalten bieten eine gute Gelegenheit, dem Kind in Versorgungs- und Lernsituationen durch neue Beziehungserlebnisse zu zeigen, dass es weiterhin wertvoll ist.

Quellen und Literatur:

Geddes, Heather, Hanko, Gerda: Behavior and the Learning of Looked-After and other vulnerable Children.www.familieslink.co.uk/download/july07/Behaviour,%20attachment%20and%20communication.pdf ; Abruf Juli 2015

KIGGS Studie 2014. www.kiggs-studie.de/fileadmin/KiGGS-Dokumente/KiGGS1_Zusammenfassung_20140623.pdf ;Abruf September 2015

Koch, Claus: Bindung und Anderssein. Aspekte der Vulnerabilität im frühen Kindesalter. In: Andresen, Sabine, Koch, Claus, König, Julia: Vulnerable Kinder. Interdisziplinäre Annäherungen. Wiesbaden: Springer VS 2015

Claus Koch

Dr. phil. (Psychologie), Diplompsychologe. Bis Juli 2015 Verlagsleiter für den Bereich Sachbuch und Elternratgeber beim Beltz Verlag in Weinheim. 2015 gründete er zusammen Udo Baer das „Pädagogische Institut Berlin“ (PIB). Jahrelange wissenschaftliche Tätigkeit mit dem Schwerpunkt Entwicklungspsychologie des Kindes und Jugendlichen unter psychoanalytischen und bindungstheoretischen Gesichtspunkten, u.a. mit einem Lehrauftrag an der Universität Bielefeld. Publizist und Autor. Zahlreiche Vorträge, Buchveröffentlichungen und Artikel in Fachzeitschriften. Vorstandsmitglied des „Archiv der Zukunft“ (AdZ).

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