Umgang mit herausfordernden Schülern

„Den Ungehorsamen begleiten, damit er den Weg zu sich selber findet.“

Betrachten wir den allgemeinen Verlauf im Leben eines unglücklichen Kindes, so beruht sein kooperationsunwilliges Verhalten in erster Linie darauf, dass es entweder mit dem Verhalten seiner Eltern in einem Maß kooperiert, dass es selbstzerstörerisch wurde, oder dass es von seinen Eltern oder anderen Erwachsenen so ernsthaft verletzt wurde, dass seine persönliche Integrität Gefahr läuft, sich aufzulösen.

„Ganz gleich, was wir als die primären Ursachen für das problematische Verhalten eines Kindes beschreiben können, ist seine Botschaft dennoch nicht: „Bring mir bei , wie ich kooperiere und mich anpasse“, sondern sie lautet: „Kümmere dich um meine Integrität, und bring mir bei, wie ich selbst mit mir vertraut werden kann und wie andere Menschen es aushalten können, mit mir zusammen zu sein.“  (Juul, Jensen 2012) Erst wenn das Kind pädagogische Beziehungen erlebt, in denen die Erwachsenen interessiert, offen und sensibel für seine persönliche Integrität sind und von seinem unmittelbaren Verhalten abstrahieren, hat sein Selbstwertgefühl die Möglichkeit, sich in einem kontinuierlichen, dialektischen Prozess zwischen der Sehnsucht des Kindes nach Integrität und dem pädagogischen Interesse zu entwickeln.(Juul/Jensen 2012)

Es klingt paradox, aber mit größeren Kindern, die entweder pausenlos selbstzerstörerische Entscheidungen treffen oder passiv oder apathisch sind, ist man häufig gezwungen genau dort anzufangen. Man muss ihre Entscheidungen als sinnvoll (aus ihrer Sicht) anerkennen und Gegenvorstellungen entwickeln, die nicht die Wünsche des Erwachsenen beschreiben, sondern auf der Existenz des Kindes basieren, also wie es im Augenblick ist (und nicht sein soll!).

Kinder, die unter chaotischen Umständen aufwachsen kreieren häufig selbst Chaos. Sie leiden unter unkontrollierbaren Ängsten und Phantasien von Gefahren und Risiken.

Um Veränderungen in Gang zu setzen muss man sich bewusst sein, dass man an den einfachsten Bedürfnissen ansetzen muss: dem nach Anerkennung! Ablehnung durch Tadel, Noten und bindungslose Beziehungen sind Gift.

Langfristige Strategien, die herausfordernden Schülern helfen:

Sicherheit herstellen und Unsicherheit reduzieren.

Die Erfahrung sicher zu sein ist das grundlegendste Bedürfnis, um mit Herausforderungen, die immer Unsicherheit mitbringen, adäquat umgehen zu können. Lernen ist nur in einer sicheren Umgebung möglich.

Dazu gehören:

Vorhersehbarkeit herstellen
Zuverlässige Rituale, wenn etwas anfängt, endet, sich verändert
Eine Art Wochentagebuch, das alle zukünftigen Geschehnisse klar und konkret benennt
Wenn sich in der Schulstunde etwas verändert, ankündigen
Körperliches Containment (Aufgehobensein)
Im Schulgebäude und Klassenraum für Übersichtlichkeit sorgen, keine Enge zulassen, eine beruhigende Atmosphäre schaffen
Wenn sich ein Kind unter dem Tisch versteckt – ihm eine kleine sichere Zone anbieten.

Die Sicherheit der Aufgabe
Schüler die kein Vertrauen haben, wollen autonom arbeiten und vermeiden, um Hilfe zu bitten. Dadurch umgehen sie etwaige Enttäuschungen. Also muss die Aufgabe auch allein zu bewältigen sein, was auch für die Hausaufgaben gilt.

Lerninhalte
Geschichten als Metapher für Gefühle und Ängste
Projekte ums Haus, Wohnen, sich „geborgen fühlen“.
Beruhigende Aktivitäten (Musik, Kunst, Theater)

Als Bindungsperson fungieren

Am meisten wird das Verhalten des herausfordernden Kindes von Gefühlen der Angst und Unsicherheit geprägt. Mit Lehrern machen herausfordernde Kinder oft die erste Erfahrung, stets anwesende und zuverlässige Erwachsene zu haben, Erwachsene, die über sie nachdenken und ihrem Denken und Handeln einen Sinn geben. Daraus kann sich nach einer gewissen Zeit die Erfahrung ergeben, verstanden zu werden, Vertrauen zu erwerben, weil man Tag für Tag die Erfahrung macht, dass sich die Lehrer als Bezugspersonen an einen erinnert und damit im Leben Konstanz und Kontinuität schaffen  – alles Voraussetzungen, die Lernen und Wissen ermöglichen. Häufig aber kopieren LehrerInnen durch ihr eigenes Verhalten die Erfahrung des Schülers mit dem zurückweisenden Elternteils, was zu einer Verstärkung des herausfordernden Verhaltens beim Schüler führt.

Es ist für Lehrer wichtig, mit emotionalen und Entwicklungsbedürfnissen arbeiten auch mit den eigenen! Fühlt sich der Lehrer zum Beispiel nicht geachtet, ängstlich, wütend, nutzlos oder entwertet, sind dies beste Voraussetzungen, um mit den Kindern zusammenzuarbeiten. Auf den ersten Blick mutet das paradox an, aber jetzt sieht die Lehrerin/der Lehrer an sich selbst, was im Kind, seinem Gegenüber, vor sich geht. Die eigenen Gefühle vor dem Kind zuzugeben fördert das Verständnis für das Kind – und eine reziproke Reaktion. Dazu gehört auch das Vertrauen in die Kollegen. Fehlt dieses, fühlt sich auch der Lehrer unsicher, zurückgestoßen, abgelehnt. Er erlebt dasselbe wie das Kind.

Fragen an die Schülerin der den Schüler können in diesem Zusammenhang sein:

  • Kannst du mir helfen … Ich verstehe dich nicht …
  • Ich kann dich nicht ausstehen – Aber was sollte ich tun, dass du mich magst?
  • Es tut mir leid, dass du dich so schlecht fühlst – hat dich irgendetwas sehr traurig gemacht?

Lehrer können immer auch ihre eigene gefühlte Hilflosigkeit dem Schüler gegenüber zum Ausdruck bringen und dabei ihre eigene Bindungsgeschichte im Auge behalten sowie die Situation, in der sie sich gerade gefühlsmäßig befinden (zum Beispiel Trennung vom Partner, Schwierigkeiten mit dem eigenen Kind, Angst, Verantwortung zu übernehmen etc.).

Lehrer müssen wissen, dass sich die aggressiven Attacken einer Schülerin, eines Schülers nicht gegen sie richten, sondern gegen die, die früher das Glück der Kinder zerstört haben. Wir müssen den Kindern das Recht (zurück)geben, ihre Gefühle auszudrücken, auch wenn sie negativ sind, ihnen damit das Gefühl geben, anerkannt und angenommen zu werden.

Anerkennung und Zurückweisung

Anerkennung und Zurückweisung sind Schlüsselkategorien für das Verhalten herausfordernder Kinder.

Anerkennung

Das Bedürfnis nach Wertschätzung ist in der Lehrer- Schüler Beziehung von zentraler Bedeutung, und zwar wechselseitig. Es ist die Aufgabe des Lehrers, diesen Prozess zu organisieren, die Verantwortung dafür liegt bei ihm. Was auch bedeutet:  Die Wahrnehmung der Wirklichkeit durch das Kind hat den gleichen Stellenwert wie die Wahrnehmung durch den Erwachsenen. Der Erwachsene muss seine Kontrolle und Macht abgeben, um die „Wirklichkeit“ des Kindes selbst empfinden zu können und darüber eine gleichwürdige Beziehung aufbauen. D. h. er muss offen sein, neugierig, erstaunt, emphatisch, kritisch sich selbst und den eigenen spontanen Gefühlen gegenüber, usw.

Zurückweisung

Ein Minderwertigkeitsgefühl entsteht oft in Zusammenhang mit Zurückweisung. Während des Heranwachsens und im Laufe des Lebens überhaupt wird es viele Situationen geben, in denen sich der Einzelne zurückgewiesen fühlt oder zurückgewiesen wird, weil es ganz einfach nicht möglich ist, eine Beziehung zu haben, in der die Bedürfnisse beider oder aller Personen jederzeit erfüllt werden können. Das ist im Übrigen auch nicht wünschenswert, denn selbst wenn wir oft nach Harmonie streben, so sind Unterschiedlichkeit und Konflikte die Triebkräfte, die Dynamik und Entwicklung in die verschiedenen Gemeinschaften bringen, die wir bilden.

Aber halten wir uns trotzdem kurz dabei auf, wie das Muster herausgebildet wird, mit Zurückweisung und Minderwertigkeitsgefühl fertig zu werden. So sieht es typischerweise aus (siehe auch Jensen&Jensen 2013): Erlebt ein Kind Zurückweisung, spürt das gesunde, kompetente Kind einen Schmerz. Das ist ganz natürlich und ungefährlich, und gehört zur Entwicklung von Persönlichkeit, Selbstgefühl, Selbstverständnis und Empathie dazu. Es ist also nicht die Zurückweisung an sich, die das Ganze für uns später im Leben schwierig gestaltet, sondern die Art und Weise, wie die Umgebung uns gegenüber reagiert, wenn wir als Kinder unseren Schmerz infolge einer Zurückweisung ausdrücken. (Natürlich spielen auch die Häufigkeit und die Intensität der Zurückweisungen eine Rolle.)

Zuerst werden Kinder auf die Zurückweisung mit Weinen reagieren und das Kind ist darauf angewiesen, dass die Umgebung diese Reaktion anerkennt und das Weinen des Kindes ernst nimmt. Das heißt nicht, dass das Kind dann das bekommen soll, was zum Gefühl der Zurückweisung geführt hat, sondern dass seine daraus resultierende Traurigkeit anerkannt und angenommen wird.

Viele Menschen, natürlich auch Lehrer und Erzieher, haben nicht erlebt, auch für die Gefühle anerkannt zu werden, die das unerfüllte Bedürfnis, sich wertvoll zu fühlen, hervorbringt. Das bedeutet, dass sie zu einem früheren Zeitpunkt im Leben dazu genötigt waren, sich einige Strategien anzueignen (auch Überlebensstrategien genannt, Juul & Jensen 2002), die sie von dem Schmerz, mit dem ein Kind bei Zurückweisung nicht allein fertig werden kann, ablenken konnten. Diese Strategien sind von Person zu Person verschieden, aber der gemeinsame Zweck ist es, den Schmerz zu vermeiden, den man bei Zurückweisung spürt oder wenn man sich minderwertig oder wertlos fühlt. Hinzukommt, dass meistens eine solche Intensität in diesen frühen Erlebnissen steckt, dass man auch noch als längst Erwachsener so reagiert, als ginge es noch immer um eine Frage von Leben und Tod (oder Überleben), in allen Beziehungen als wertvoll zu gelten. Das heißt, dass unsere Reaktionen auf mangelnde Wertschätzung oder erlebte Zurückweisung im Verhältnis dazu, wie wir sonst »funktionieren«, häufig als kindisch erscheinen.

Der Lehrer ist Lehrer und kein Therapeut

In Schule und Unterricht eine Bindung zum Schüler aufzubauen bedeutet nicht, den Schüler zu therapieren, ganz im Gegenteil. Therapie (die Überweisung des Schülers an den Schulpsychologen oder Therapeuten) bedeutet immer, zunächst beim Kind den Auslöser für das auffällige Verhalten zu suchen, es zu isolieren und zu therapieren. Der Aufbau einer Bindung findet jedoch ausschließlich auf der Beziehungsebene zwischen Erwachsenem und Kind statt. Dabei geht es um keine therapeutischen Interventionen, sondern um die Herstellung einer Beziehung, in der sich das Kind sicher und geborgen fühlt, angenommen und nicht zurückgewiesen, seine Integrität geachtet wird und die Ausdrucksform seiner Schwierigkeiten als zu ihm gehörig angenommen werden. So, wie auch die Beziehung von Eltern zu ihrem Kind keine therapeutische Beziehung ist, gehören zum Aufbau einer guten Bindung vonseiten des Lehrers hauptsächlich Empathie und Feinfühligkeit. Im Gegensatz zu Eltern, denen dies in den meisten Fällen ja gelingt, müssen Lehrer dies gegenüber den ihnen anvertrauten Kindern, besonders den herausfordernden unter ihnen, aber lernen, auch, indem sie sich in diesem Prozess wechselseitiger Beziehung selbst mit ihren emotionalen Bedürfnissen verorten. Ihre Beziehung zum Kind bleibt dabei immer professionell bestimmt und die Reflexion auf die jeweilige Beziehung sollte professionell begleitet sein, am besten durch Supervisionsgruppen.

Quellen und Literatur:

Geddes, Heather, Hanko, Gerda

Behavior and the Learning of Looked-After and other vulnerable Children

www.familieslink.co.uk/download/july07/Behaviour,%20attachment%20and%20communication.pdf (Abruf Juli 2015)

Jensen, Elsebeth, Jensen Helle: Professionelt forældresamarbeijde. Akademisk Forlag 2013 (dt.: Gelungene Lehrer-Eltern-Gespräche. Weinheim und Basel: Beltz 2016 (im Druck)

Juul, Jesper, Jensen, Helle: Vom Gehorsam zur Verantwortung. Für eine neue Erziehungskultur. Weinheim und Basel: Beltz 2012

Claus Koch

Dr. phil. (Psychologie), Diplompsychologe. Bis Juli 2015 Verlagsleiter für den Bereich Sachbuch und Elternratgeber beim Beltz Verlag in Weinheim. 2015 gründete er zusammen Udo Baer das „Pädagogische Institut Berlin“ (PIB). Jahrelange wissenschaftliche Tätigkeit mit dem Schwerpunkt Entwicklungspsychologie des Kindes und Jugendlichen unter psychoanalytischen und bindungstheoretischen Gesichtspunkten, u.a. mit einem Lehrauftrag an der Universität Bielefeld. Publizist und Autor. Zahlreiche Vorträge, Buchveröffentlichungen und Artikel in Fachzeitschriften. Vorstandsmitglied des „Archiv der Zukunft“ (AdZ).

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