Die Geschichte von Frank

Frank ist ein eher stiller, zurückhaltender Schüler, 10 Jahre alt und vor einem halben Jahr in die 5. Klasse einer Gesamtschule gekommen. Das erste Halbjahr fiel er in seiner Klasse nicht besonders auf, oder, wie seine Lehrerin Marion fand, im Gegensatz zu den vielen anderen munteren Schülern fast zu wenig. Irgendwie blieb er für sie unsichtbar, nicht „greifbar“, durchsichtig. Am Unterricht beteiligte er sich nur, wenn er aufgerufen wurde, und dann wirkte er häufig geradezu erschrocken, so als wäre er ganz woanders mit seinen Gedanken.

Als die Osterferien vorbei waren fing Frank an, während des Unterrichts in der Klasse immer wieder von seinem Platz aufzustehen und herumzuwandern. Als ihn seine Lehrerin zunächst freundlich bat, sich doch wieder an seinen Platz zu setzen, tat er es schweigend, um kurze Zeit darauf wieder aufzustehen. Marion ging freundlich auf ihn zu und bat ihn, ihr und den anderen zu erzählen, warum er es auf seinem Platz nicht aushalten würde. Im Grunde wäre daran ja nichts Schlimmes, aber sie würde gerne verstehen, was ihn dazu bringen würde, immer wieder aufzustehen. Frank bekam einen roten Kopf, schaute zu Boden und setzte sich an seinen Platz.

Am nächsten Tag fing Frank wieder an, aufzustehen und in der Klasse herumzuwandern. Einige der anderen Kinder tippten sich an die Stirn und fingen an zu tuscheln. Der sonst so schüchterne Frank stürzte sich darauf auf einen Jungen, der gerade neben ihm saß, und versuchte ihn mit aller Kraft vom Stuhl zu schubsen. Jetzt wurde es in der Klasse laut und chaotisch.

Die Lehrerin bat um Ruhe und stellte sich zunächst neben Frank, der allein und völlig aufgelöst mitten im Klassenzimmer stand. Sie bat Frank, sich bei dem anderen Schüler zu entschuldigen, denn der habe ihm ja nichts getan. Und dann fuhr sie mit leiser, aber bestimmter Stimme fort: „Ich weiß nicht warum, aber offensichtlich kannst du zur Zeit einfach nicht auf deinem Platz sitzen bleiben. Deswegen darfst du ab jetzt, wenn du willst, immer aufstehen, wann du willst und in der Klasse herumwandern, aber möglichst ohne die anderen beim Lernen zu stören.“ In der Klasse blieb es still. Marion war bei den Kindern eine beliebte Lehrerin, die Schüler fühlten sich von ihr angenommen und verstanden; zwar wunderten sie sich über ihre Großzügigkeit, aber akzeptierten sie, so, wie sie Marion akzeptierten. Und Marion hatte ja auch zu Frank gesagt, mit ihm in der Pause sprechen zu wollen.

In der Pause bat sie Frank zu sich und fragte ihn, ob er ihr dabei helfen könne, herauszufinden, warum er im Unterricht ständig herumwandern müsse. „Vielleicht verstehe ich nicht, was du damit meinst, du sprichst ja auch so wenig, aber vielleicht kannst du mir dennoch helfen?“ Frank blieb stumm.

Am nächsten Tag wiederholte sich die Szene, Frank wanderte ab und zu in der Klasse herum, was seine Mitschüler weiterhin irritierte. Als er in der letzten Stunde kaum noch damit aufhören konnte, ging Marion auf ihn zu, legte ihren Arm kurz um ihn, entschuldigte sich bei den anderen Schülern, bat sie einen Moment ruhig sein, denn sie wolle mit Franz draußen allein sprechen.

Sie sagte ihm, dass er immer noch weiter herumlaufen dürfe, aber damit zunehmend Schwierigkeiten bekommen würde. Bei seinen Mitschülern, aber auch, weil er so viel vom Unterricht verpassen würde. Frank sah zu Boden, dann blickte er zu ihr auf und sagte: „ Aber er schlägt sie doch.“ Zunächst verstand Marion nicht – wer schlägt wen? – aber dann kam ihr ein Verdacht. „Wer schlägt wen?“ „Nun ja, der Vater, aber nur ganz manchmal – sonst ist er lieb, auch zu mir und meinem Bruder.“ Marion sah Frank lange an. „Und du hältst es in der Schule nicht mehr aus und willst ihr helfen, nicht wahr?“. Frank fing an, zu weinen. „Ja, brach es aus ihm hervor, sie muss doch arbeiten können, Papa hat ja keine Arbeit mehr. Wir brauchen doch Geld, für die Wohnung und so.“

Die Geschichte braucht nicht zu Ende erzählt zu werden. Wir wissen nicht, wie sie ausging. Was wir jedoch wissen ist, dass Marion, die Lehrerin, sehr viel richtig gemacht hat. Und dass Frank nach kurzer Zeit damit aufhörte, in der Klasse herumzulaufen. Weil er, wie er – fast stolz – sagte, „mit der Lehrerin gesprochen habe“.

Margot ist eine vor ihrer Klasse einfühlsam und authentisch auftretende Lehrerin, die die Schüler respektieren, aber auch – und sicherlich gerade deswegen –, weil sie das Gefühl haben, auch von ihr respektiert zu werden. Dies merkt man auch daran, dass sie ihr und ihrer Führungskraft weiterhin vertrauen, trotz der für die meisten Schüler ja ungewöhnlichen Maßnahme, Frank weiterhin in der Klasse herumlaufen zu lassen. Auch hatte Marion schon vor dem herausfordernden Verhalten von Frank das Gefühl, dass bei ihm irgendetwas nicht stimmig ist, weswegen sie auch nicht die Sorge hatte, von ihm wegen ihrer Großzügigkeit jetzt ausgenutzt zu werden. Sie hat die Integrität von Frank dadurch bewahrt, dass sie sein Verhalten als sinnvoll interpretierte, statt ihm zu befehlen, er solle sofort mit dem Herumlaufen aufhören. Damit kam sie seinen existenziellen Bedürfnissen nach Anerkennung, Wertschätzung und Kooperation entgegen. Frank fühlte sich von seiner Lehrerin, so, wie er gerade war, akzeptiert und nicht (schon wieder!) zurückgestoßen.

Marion hat mit ihm das Gespräch gesucht, ohne ihn in eine Rechtfertigungsposition für sein Verhalten zu bringen. Sie hat ihm zu verstehen gegeben, dass er sich dauerhaft nicht so verhalten kann, dass sie aber auch Geduld mit ihm habe, um ihn besser zu verstehen. Indem sie ihn gebeten hat, ihn zu verstehen, hat sie ihm eine aktive Rolle in der Kommunikation zugewiesen.

Als es zu dem Zwischenfall mit dem Schüler kam, den Frank umstieß, weil er die Ablehnung seiner Mitschüler nicht mehr ertrug, hat sie einerseits darauf bestanden, dass sich Frank bei ihm entschuldigt. Indem sie sich aber spontan neben ihn – sozusagen auf seine Seite – gestellt hat, im Bewusstsein dafür, dass er in der ganzen Klasse trotz seines aggressiven Verhaltens in diesem Moment die schwächste Position einnahm, gab sie ihm auch körperlich das Gefühl, beschützt zu sein, was in dieser Situation, in der Frank völlig hilf- und schutzlos war, von enormer Bedeutung war.

Nachdem Frank zu Marion nach und nach eine gelungene Bindung oder „Resonanzbeziehung“ hergestellt hatte– die Geschichte ist an dieser Stelle natürlich verkürzt wiedergegeben – war er am Ende in der Lage, darüber zu erzählen, was ihn bewegt hatte, nicht mehr still sitzen zu können. Sehr gut sieht man auch hier, wie er lange und über seine Kräfte hinaus versucht hat, seine Eltern, vor allem den Vater, zu „schützen“, indem er dazu schwieg, dass dieser seine Mutter manchmal schlug. Als er dann aber eine Szene mitbekommen hat, in der die Mutter so laut aufschrie, dass er Angst bekam, sie könnte sterben, wurde sein Erregungspegel so hoch, dass er herumrennen musste, weil er ihn nicht mehr anders abbauen konnte. Außerdem wollte er seine Mutter beschützen und war deswegen innerlich wie äußerlich „immer auf dem Sprung“. Sein auffälliges Verhalten war also nicht nur sinnvoll, sondern zeugte auch von einer hohen menschlichen Sensibilität dieses 10-Jährigen.

Vielleicht erzählt er später seinen Kindern, dass genau diese Lehrerin damals, als alles so schwierig und aussichtslos für ihn erschien, sein Leben gerettet hat, ganz einfach, weil sie ihn verstand.

Claus Koch

Dr. phil. (Psychologie), Diplompsychologe. Bis Juli 2015 Verlagsleiter für den Bereich Sachbuch und Elternratgeber beim Beltz Verlag in Weinheim. 2015 gründete er zusammen Udo Baer das „Pädagogische Institut Berlin“ (PIB). Jahrelange wissenschaftliche Tätigkeit mit dem Schwerpunkt Entwicklungspsychologie des Kindes und Jugendlichen unter psychoanalytischen und bindungstheoretischen Gesichtspunkten, u.a. mit einem Lehrauftrag an der Universität Bielefeld. Publizist und Autor. Zahlreiche Vorträge, Buchveröffentlichungen und Artikel in Fachzeitschriften. Vorstandsmitglied des „Archiv der Zukunft“ (AdZ).

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