*Aus dem Schweizer Elternmagazin, mit freundlicher Genehmigung von Jesper Juul
Wie Aggression, Gewalt und potenzieller Radikalisierung in Kindergärten und Schulen vorgebeugt werden kann, erklärt der renommierte dänische Familientherapeut Jesper Juul in diesem Fachartikel für Experten. Ein exklusiver Beitrag, der auch Eltern wichtige Einblicke in eine hochaktuelle Thematik gibt.
Diese Anleitung beschreibt, wie und warum wir einen höheren Grad an Gewalt und Aggression in Kindergärten und Schulen erwarten können, die aus der ablehnenden europäischen Haltung gegenüber den Flüchtlingen resultiert, und wie wir mit dieser Situation als Lehrer und Eltern umgehen können. Der Text illustriert die unterschiedlichen und doch identischen Quellen von Aggression bei europäischen und geflüchteten Kindern und Jugendlichen, und die Notwendigkeit neuer pädagogischer Ansätze. Mit dem Begriff «Prävention», den ich hier benutze meine ich Primärprävention. Da es über den Zusammenhang zwischen politischen und kulturellen Haltungen gegenüber Migranten und Flüchtlingen und dem Auftreten von Aggression und Gewalt bei Kindern und Jugendlichen keinerlei Forschungsergebnisse gibt, sind die in Folge beschriebenen Ansprüche und Vorhersagen nicht evidenzbasiert, sondern erfahrungsbasiert.
Die enorme Menge an Flüchtlingen und Migranten, die nach Europa kommen und die vielfältigen Methoden, mit denen unsere Regierungen beschlossen haben, sie nicht willkommen zu heissen, hat bereits von unseren eigenen Bürgern initiierte Gewaltausbrüche und Vandalismus zur Folge gehabt. Es gibt wenig Hoffnung, dass die Lage nicht eskalieren wird und es nicht noch gewaltsamere Konfrontationen, sowohl zwischen unterschiedlichen Bürgergruppen, als auch zwischen «uns und denen», geben wird»
Aus der jüngsten Geschichte haben wir gelernt, dass wir uns viel besser um die Kinder und Jugendlichen primär aus muslimische Familien kümmern müssen. Wir haben sie vernachlässigt, indem wir ihr existenzielles Dilemma und ihr Bedürfnis, sich unserer Gesellschaft zugehörig zu fühlen, ignoriert haben, oft einfach bis zur Entfremdung und Verzweiflung. Die daraus resultierende Tendenz, sich kriminellen Gangs oder radikalen Bewegungen anzuschliessen, die ihnen Sinn, Struktur und Ausrichtung in ihrem Leben geben, hat uns erst vor kurzem aufhorchen lassen.
Diese Tatsache hat nun zweierlei Dinge zur Folge:
Erstens hat es rechtsextremen Bewegungen Gelegenheit geboten, sich in der politischen Szene sowie auf den Straßen breit zu machen. Diese Bewegungen, ob Gruppierungen oder Gangs, sind in ihrer Philosophie und ihrem Verhalten alle aggressiv und gewalttätig, obwohl sie behaupten, sie würden aus Liebe zu ihrer Heimat handeln (aus historischer Sicht haben rechtsextreme Bewegungen die Tendenz, nationalistische Abstraktionen leidenschaftlicher zu lieben als ihre Nächsten).
Zweitens hat es zehntausende besonnener, mündiger und verantwortungsvoller Bürger bewegt, mit vielen unterschiedlichen empathischen, menschlichen und intelligenten Initiativen unser ethisches und moralisches Kapital sowie unsere fundamentalen christlichen Tugenden wie Güte, Empathie, Grosszügigkeit und Freundschaft zu schützen. Kurz gesagt hat diese negative Atmosphäre zur Folge, dass Tausende europäische Kinder, die von den aggressiven und rassistischen Werten ihrer Eltern und der Netzwerke ihrer Erwachsenen geprägt sind, in unsere pädagogischen Einrichtungen eintreten werden. Gleichzeitig werden viele Kinder aus Flüchtlingsfamilien die gleichen Einrichtungen besuchen und diese werden von den Gräueln, die sie in ihrem Herkunftsland erlebt haben, psychologisch, seelisch und existenziell gezeichnet sein, aber auch von einer neuen Angst, und zwar ausgeschlossen und isoliert zu werden, eine Angst, die das Lebensgefühl ihrer Eltern und auch ihr eigenes bestimmen.
Die Etymologie der Aggression
Diese Situation wird unvermeidlich einen Anstieg aggressiven und gewalttätigen Verhaltens zwischen Kindern und Jugendlichen, und sogar von Kindern und Jugendlichen ihren Lehrern gegenüber haben. Der psychosoziale Ursprung dieser Aggression ist die Angst, seinen Besitz, seine Werte und sein Revier zu verlieren; die Angst vor Ablehnung, Ausgrenzung und Isolierung; unerkannter Schmerz aus traumatischen Ursachen, der nachweislich zu PTBS führt, sogar bei sehr jungen Kindern.Die kurze Fassung hiervon, die ich im Folgenden weiter ausführen werde, ist, dass beide Gruppen Kinder entweder einen imaginären Werteverlust erleben werden, der mit ihren übernommenen Werten und Besitz in Verbindung steht (heimische Kinder) oder einen sehr realen Verlust des Gefühls, für die Gesellschaft wertvoll zu sein (geflüchtete Kinder).
Wie ich es ausführlich in meinem Buch über Aggression erklärt habe (Jesper Juul – «Aggression, warum sie für uns und unsere Kinder notwendig ist») bildet dieser imaginäre oder reelle Verlust ihres Wertes als menschliche Wesen an sich die die Wurzel der Aggression. Wenn mit dieser gesunden emotionalen Reaktion nicht angemessen von Seiten der Eltern, Lehrer, Therapeuten, Ärzte und Ordnungskräfte umgegangen wird und wenn sie durch Politiker und den Gesetzgeber nicht gewürdigt wird, wird sie sich immer in Gewalt verwandeln. Wenn Menschen nicht gehört werden, haben sie die Tendenz die «Lautstärke» aufzudrehen. Diese Gewalt kann entweder schädigende Gewalt sein, die andere Menschen verletzt oder ihren Besitz beschädigt, oder sie kann von der introvertierten Sorte sein, die in eine Reihe von selbstzerstörerischen Verhalten resultiert.
Destruktive Aggression wurzelt in der Erfahrung des Einzelnen, nicht gesehen und nicht gehört zu werden. Dadurch kommen der Sinn von Zugehörigkeit und das Gefühl, für andere wertvoll zu sein, abhanden. Das daraus resultierende aggressive oder gewaltsame Verhalten kann entweder kurzfristig und mit einer spezifischen Person verbunden sein, oder es kann langfristig sein und sich auf eine andere Person, Gruppe oder soziale Einheit beziehen. Diese Ursache ist kulturübergreifend und nicht auf ein bestimmtes Geschlecht oder Alter bezogen.
Europäische Kinder
Die Kinder verängstigter und aggressiver europäischer Eltern werden eine Minderheit in unseren Einrichtungen sein, in denen Lehrer versuchen werden, ihnen bessere Wege aufzuzeigen. Unsere bisherige Erfahrung zeigt, dass diese Versuche meist zum Scheitern verurteilt sind und dies aus zweierlei Gründen: entweder werden sie durch die Eltern vereitelt, die nicht in der Lage sind, die Verbindung zwischen ihrer eigenen aggressiven Philosophie und dem verbalen Gebaren und gewalttätigen Verhalten ihrer Kinder gegenüber anderen (weissen) Kindern zu erkennen. Oder sie werden dazu neigen, ihr Verhalten gegenüber (dunkelhäutigen) Kinder zu verteidigen. In beiden Fällen werden die Kinder verwirrt sein und die Tendenz haben, sich loyal gegenüber ihren Eltern und deren Werten zu verhalten. Dies wird ihnen ein Gefühl und eine Erfahrung der Ausgrenzung und der Abwertung durch die Institutionen der Gemeinschaft geben, welche ihr aggressives Verhalten steigern und gleichzeitig auch ihre Sichtweisen bestätigen wird. Sie werden sich wie selbstgerechte Aussenseiter fühlen.
Flüchtlingskinder
Flüchtlingskinder werden sich hauptsächlich in zwei Gruppen aufteilen, auch wenn sie in ähnlichen Lebensverhältnissen leben. Gewöhnlich werden sie Eltern haben, die sie stark unterstützen und denen viel daran liegt, dass ihre Kinder sich integrieren. Auch haben Eltern die Tendenz, ihr eigenes Wohlbefinden und sozialen Erfolg zugunsten des zukünftigen sozialen Erfolgs ihrer Kinder zu opfern. Beide Phänomene – die starke Unterstützung und das Opfer – legen eine schwere Bürde auf die Schultern ihrer Kinder. Diese werden sich verpflichtet fühlen, eine Gegenleistung zu bringen und sich für das Wohlbefinden der ganzen Familie verantwortlich fühlen, was auch einen starken Wunsch beinhaltet, erfolgreich zu sein und ihre Eltern stolz und glücklich zu machen. Falls und wenn sie unter dieser Last zusammenbrechen, dann erwartet sie ein emotionales und existenzielles Desaster ohne jegliches Gefühl für Werte, weder für ihre Lieben noch für die Gesellschaft. Hierdurch werden die Weichen für eine mögliche Radikalisierung gestellt.
Egal wie freundlich, offen und einladend die Lehrer sind, so haben diese Kinder bereits jetzt das Gefühl, aufgrund der herrschenden feindseligen politischen Haltung, die «in der Luft» liegt und die durch ihre Eltern und ihr Netzwerk intensiv wahrgenommen und verstanden wird, der neuen Gesellschaft nicht anzugehören. Das Zusammentreffen mit freundlichen und um Inklusion bemühten Lehrern, neuen Freunden und deren Eltern und Geschwister wird für sie extrem wertvoll sein und den Kindergarten und die Schule zu einem sicheren Hafen für sie machen. Es wird ihnen jedoch nicht helfen, mit ihrem emotionalen und existenziellen Schmerz fertig zu werden.
Manche werden Eltern haben, die stark, kompetent und offen genug sind, ihnen zu helfen, jedoch braucht der Grossteil von ihnen emotionale Unterstützung (wie auch ihre Eltern Unterstützung brauchen). Eine der Auswirkungen unserer Feindseligkeit gegenüber Geflüchteten ist, dass wir uns weigern, ihnen die Hilfe zu geben, die sie benötigen. In manchen Ländern wird ihnen sogar die grundlegendste medizinische Versorgung verwehrt, bis sie Asyl bekommen, ein, zwei oder drei Jahre nach ihrer Ankunft. Angemessene psychologische, psychiatrische und psychotherapeutische Betreuung steht ihnen nicht zur Verfügung. Die entscheidendste und gefährlichste Auswirkung dieser Ausgrenzung ist, dass ihr Trauma weniger zugänglich wird und dadurch belastender für ihre psychologische Entwicklung und ihre Fähigkeit, sich zu integrieren – auch wenn der Wunsch, sich anzupassen noch stark ist.
Wie können wir damit umgehen?
Es gibt viele Dinge, die Sie tun können. Manche hängen vom Alter der Kinder ab, andere sind altersunabhängig. Das Motto sollte sein:
Wenn das Gewöhnliche aussergewöhnlich wird.
Das ist die Essenz von dem, was wir vor vielen Jahren gelernt haben, als wir während und nach dem Balkankrieg in Flüchtlingslagern in Kroatien, Bosnien, Österreich und Slowenien mit Kindern und Jugendlichen gearbeitet haben, und auch als wir damals in einigen dänischen Kindergärten mit Flüchtlingskindern arbeiteten. Dieses Motto bezieht sich auf die Tatsache, dass verwundbare Kinder wie alle anderen Kinder den Wunsch haben, gesehen und anerkannt zu werden so wie sie sind, ohne Referenz zu einer spezifischen, gegenwärtig dominanten kulturellen Idee, die von Eltern und Erziehern festgelegt ist. Genauso wie sie das Bedürfnis haben zu spielen, Freundschaften zu schliessen, zu lernen und Kompetenzen zu entwickeln, körperlich berührt und umarmt zu werden und die Freiheit zu bekommen, Kontakt zu anderen zu suchen und sich aus dem Kontakt wieder zurückziehen zu dürfen, je nach eigenem Rhythmus. Verwundbare Kinder – ob geflüchtet oder heimisch – brauchen all dies und sie brauchen mehr davon als ihre zufriedeneren und ausgeglicheneren Freunde. Darüber hinaus brauchen einige von ihnen, aus beiden Gruppen, eine höher spezialisierte und individualisierte Aufmerksamkeit in Zusammenarbeit mit Spezialisten und ihren Eltern und Geschwistern. Diese Tatsache sollte aber niemals die gewöhnlichen Eigenschaften ihrer Einrichtungen und ihrer Familien ersetzen, und lediglich im Fall von institutionalisierter oder elterlicher Vernachlässigung sollten diese Kinder aus diesen entfernt werden. Für alle verwundbaren Kinder ist es unerlässlich, dass die ganze Familie Unterstützung und Therapie bekommt, und dies aus den zwei folgenden Gründen:
- Es wird die Erfahrung des Kindes, falsch, schwierig, ungezogen, lästig und unerwünscht zu sein in den Augen seiner wichtigsten Erwachsenen, schmälern.
- Es wird die Eltern mit Know-how und Kompetenzen versorgen, die sie aller Wahrscheinlichkeit nach nicht besitzen, und ihnen das Gefühl geben, dass sie ausreichend gute und wertvolle Eltern sind. Andernfalls werden sie sich selbst als schlechte Eltern erleben, was in vielen Fällen zu häuslicher Gewalt führen wird. Es wird Vertrauen in ein System und in Berufe aufbauen, die für sie fremd und/oder beängstigend sind und die sie womöglich als Feinde ihrer Familie sehen.
Auch wenn beschlossen wird, ein Kind zu einem Physiotherapeuten, einem Logopäden, einem Ergotherapeuten oder irgendeiner anderen Art von Therapie zu überweisen, die eigentlich unter «Einzeltherapie» eingeordnet wird, so ist es sehr wichtig, die Eltern und am besten beide Eltern, miteinzubeziehen. Nicht nur aus den oben beschriebenen Gründen, aber auch um für alle Beteiligten klar zu machen, dass Eltern immer ein Teil der Lösung sein müssen – und dies wird nur gewährleistet, wenn die während der Therapie neu angeeigneten Fähigkeiten und Einsichten auch experimentell und nicht nur abstrakt angepasst werden können. Die Notwendigkeit dieser Vorgehensweise ist gleich, ob es sich um heimische oder geflüchtete Kinder handelt. In beiden Gruppen werden sie mit Eltern zu tun haben, die sich verhalten, als seien sie «nicht motiviert».
Falls dies geschieht, halten Sie sich vor Augen, dass alle Eltern sich unzulänglich fühlen, wenn ihr Kind die Aufmerksamkeit von Fachleuten auf sich zieht. Daher ist es Ihr Job, einen dynamischen Dialog zu initiieren und zu führen, der ihr Vertrauen in Sie schürt und der ihnen ein ausreichendes Gefühl von Sicherheit vermittelt, um mit Ihnen zusammenarbeiten zu können. Wenn Sie dies nicht tun, werden sie die Neigung haben, sich aus dem Kontakt zurückzuziehen und sich auf ihre eigenen unzureichenden Bewältigungsmechanismen zu verlassen. Sie werden ausserdem auch sehr patriarchale Familien antreffen, bei denen Sie die Art, wie in der Familie Arbeit und Verantwortlichkeiten strukturiert werden, respektieren müssen. Versuche, ihre selbst gewählte Art des Zusammenlebens als Familie zu kritisieren und zu verändern wird diese Familien nicht nur entmutigen, sondern auch Spannungen auslösen, die zur zusätzlichen Belastung für die Kinder werden.
Was Ihre Einrichtung und Ihre Mitarbeiter brauchen
Sie müssen ihre geschichtlichen und gegenwärtigen Werte und Haltungen gegenüber aggressivem Verhalten überprüfen und die Elemente löschen, die kontraproduktiv sind.
Diese sind:
- Die moralische Verurteilung dieses Verhaltens
Es gibt an der Meinung «wir wollen keine Gewalt» nichts auszusetzen, aber wenn diese Ihr vorrangiges und einziges Schutzwerk gegen Aggression ist, dann werden wahrscheinlich drei Dinge passieren:
Zum Ersten wird es das unerwünschte Verhalten nicht wirklich unterbinden – weder zwischen den Kindern, noch von Seiten der Mitarbeiter. Daher wird es zu einer dieser augenscheinlichen Werte, die hauptsächlich als dekoratives Alibi dastehen.
Zweitens führt es oft zu einer Reihe von sogenannten «Konsequenzen», welche lediglich eine moderne Bezeichnung für Bestrafung sind, und von ihrer eigenen Natur und Absicht immer aggressiv und daher kontraproduktiv sind, wenn es darum geht, eine gewaltfreie Kultur in einer Einrichtung zu gewährleisten.
Und drittens führt es zur allgemeinen Annahme bei den Kindern, dass alle aggressive Gedanken oder Gefühle verboten sind, was zur selbst- Unterdrückung führt. Wenn dies geschieht (wie zum Beispiel in Schweden im Laufe der zwei letzten Jahrzehnte), führen die unterdrückten Gefühle, die mangelnde Einsicht und die mangelhaften Kompetenzen im einzelnen Kind, mit ihnen umzugehen, zu verzögerten Wut- und Gewaltexplosionen bei Teenagern und jungen Erwachsenen – die sich momentan gegen Flüchtlingsunterkünfte und einzelne Flüchtlinge auf den Straßen richten. Das vorhersehbare Ergebnis von verurteilender Moral ist, dass sie genau die Art Verhalten schafft, die sie beabsichtigt zu unterbinden.
- Eine professionelle Kultur, die Mitarbeitern erlaubt, Kinder zu erniedrigen und mit ihnen zu schimpfen, wann immer sie Dinge sagen oder tun, die die Erwachsenen unzumutbar finden.
Schimpfen ist eine traditionelle Form von erzieherischer Aggression und psychischer Gewalt, die, so haben eine ganze Reihe Studien gezeigt, Kinder als genauso harsch und schmerzlich empfinden wie physische Gewalt. Hinzu kommt, dass es eine kulturelle Zwickmühle ist, die zwei gegensätzliche Regelwerke für Kinder und Erwachsene aufstellt, was die Anzahl und die Intensität der Konflikte zwischen Kindern und daher die «Notwendigkeit» zu schimpfen erhöhen wird.
«Aggression des Kindes ist eine klare Botschaft, die besagt: ‚Ich habe Schmerzen und fühle mich verloren‘.»
Ein Kind, das regelmässig mit physischer und/oder verbaler Aggression reagiert, wenn es frustriert oder im Konflikt mit anderen steht, ist keinesfalls ein unerzogenes Kind, das es «besser wissen sollte». Die Aggression des Kindes ist eine klare Botschaft an die Erwachsenen, die besagt:
«Ich habe Schmerzen und ich fühle mich verloren. Ich weiss, dass das was ich tue falsch ist, also könntest du mir bitte helfen herauszufinden, was gerade in meinem Leben schief läuft. Ich liebe meine Eltern, ich mag meine Lehrer und ich möchte mit den anderen Kindern spielen, aber irgendwie schaffe ich es nicht.»
Diese Botschaft ähnelt sehr der aggressiver, schreiender und ohrfeigender Eltern, schimpfender und bestrafender Lehrer, und Ehemännern, die ihre Ehefrauen schlagen. Diese Tatsache rechtfertigt moralisch aggressives oder gewaltsames Verhalten keineswegs, noch macht sie sie gesellschaftsfähig, jedoch fordert sie die zuschauenden Fachleuten moralisch und ethisch dazu auf, diese Botschaft unbedingt zu verstehen und ihr Augenmerk auf ihre existenzielle Substanz zu richten, und nicht auf ihre Form. Es ist demzufolge völlig im Rahmen einer verantwortungsvollen professionellen Handlungsweise, die Hand des Kindes zu nehmen, sich mit ihm von der Szene des Vorfalls zu entfernen und zu sagen: «Ich kann sehen, dass du in Schwierigkeiten bist und ich würde dir gerne helfen wenn ich kann. Lass uns einen Spaziergang machen, rausgehen, in mein Büro gehen und herausfinden, was dir innen wehtut.» Nicht nur wird dadurch die Situation entschärft und dem Kind ein Gefühl der Sicherheit und des Angenommen-seins vermittelt, sondern es sendet auch den anderen Kindern eine starke Botschaft: «Wann immer du verzweifelt bist, werden wir dir helfen und wir werden gewalttätiges Verhalten nicht dulden.»
Auf diese Art und Weise wird der Lehrer zum Rollenvorbild anstelle eines aufgebrachten Prinzipienpredigers – ein Rollenvorbild, das dem Kind bereits vertraut ist – und kann dadurch verhindern, dass das Kind sich noch unzulänglicher, noch dümmer und noch isolierter fühlt, was seine Verzweiflung und seine Aggression nur noch steigern würde. Die übergreifende pädagogische Botschaft lautet demnach: Ich mag es nicht, wenn Menschen aggressiv sind und einander verletzen, aber wenn du keinen anderen Weg findest, «Aua!» zu sagen, dann helfe ich dir einen zu finden.
Aktivitäten und Routinen
Es besteht kein Zweifel daran, dass tägliche, wöchentliche und jahreszeitliche Rituale und Traditionen eine sehr wichtige Rolle dabei spielen, allen Kindern eine sichere Atmosphäre zu gewährleisten, und besonders auch verwundbaren Kindern, ob sie traumatisiert sind oder nur sozial gegenüber anderen Kinder am Rande stehen. Zusätzlich zu diesen Ritualen empfehle ich folgendes – ohne spezifische Rangordnung:
Philosophische Fenster
Es gibt eine Reihe guter Bücher darüber, wie man mit Kindern philosophieren kann, die
Fachleute mit Inhalten und Methoden versorgen. Der Wert dieser wöchentlichen Fenster (meine Empfehlung) ist, dass sie sowohl die Kinder als auch ihre Lehrer ermutigen, über wichtige Fragen und Themen des Lebens nachzudenken und zu reden, wie z.B.: Freundschaft; Schlüsselgefühle wie Liebe, Wut, Hass, Frustration; Familie; Krieg usw. in gleichberechtigter Gewichtung. Für Kinder ist es extrem wertvoll, nachdenken und sich ausdrücken zu dürfen (Kinder, die nicht gerne reden, können malen), aber auch für Lehrer ist es wertvoll, denn sie bekommen die seltene Gelegenheit über jenes, was sich in jedem einzelnen Kind innerlich abspielt, mehr zu erfahren und Entwicklungen eher zu begünstigen, als blossen Stoff zu unterrichten.
Empathie-Training
Unser Buch über Empathie (Jesper Juul und weitere Autoren – «Miteinander – wie Empathie Kinder stark macht») bietet einen Katalog von 12 Übungen an, die frei von spezifischen Religionen und Ideologien sind. Diese können mit Kindergruppen gemacht werden und werden auf verschiedenen Ebenen fruchtbar sein:
- Jedes einzelne Kind wird neue Wege erleben, seinen eigenen Körper und sein im-Hier-und-Jetzt-sein wahrzunehmen und so seine psychosoziale Entwicklung zu fördern.
- Das Wachstum des Einzelnen wird einen positiven Einfluss auf das Zusammenspiel zwischen den Kindern haben und somit zu einer gesunden Kultur in der ganzen Einrichtung beitragen.
- Die Lehrer werden ermutigt, die Übungen zusammen mit der Gruppe zu machen und werden dadurch ihre eigenen Fähigkeiten und ihren eigenen Wunsch, den Kindern mit Empathie und mit Mitgefühl zu begegnen, verbessern. Ausserdem schaffen sie dadurch einen gemeinsamen Pool geteilter Erfahrung und Sprache, die die zwischenmenschlichen Beziehungen und Kultur aufwerten wird.
Achtsamkeitstraining
Achtsamkeit wurde vornehmlich aus therapeutischer Sicht entwickelt um mit akutem Stress- Syndrom umzugehen und hat sich dann zu einer erweiterten und wissenschaftlich gut dokumentierten Methode ausgeweitet, um das individuelle Bewusstsein des eigenen Geistes, des eigenen Körpers und der Umgebung, zu verbessern. Auf diese Weise ist es ein sehr geradliniges und wertvolles Bündel von Fertigkeiten und Einsichten, die das Wohlbefinden von Kindern in Einrichtungen fördert – Einrichtungen, in denen es Unmengen von Stressfaktoren gibt und eine Nichtverfügbarkeit von Alleinsein-Können, Stille und nach innen gerichteter Achtsamkeit.
Manche Fachleute befürchten, dass dieses Training gefährlich für verwundbare und Not leidende Kinder sein wird, doch diese Angst rührt aus einer veralteten Art zu denken, die es vorzog, menschliche Emotionen zu deckeln, und der es an Einsichten und Kompetenzen mangelte, den Einzelnen und seiner Umgebung gesunde Wege aufzuzeigen, um mit Emotionen umzugehen und sie mitzuteilen.
Basierend auf unseren Erfahrungen mit traumatisierten Kindern, wissen wir heute, dass es für ihr Wohlbefinden und für eine positive Prognose ihres Zustandes sehr wertvoll ist, wenn es ihnen erlaubt wird, ihre Gefühle zu fühlen, mitzuteilen und sich mit ihnen anzufreunden. Die Tatsache, dass es bei manchen der sehr grausamen und furchtbaren Erfahrungen fachkundiger psychotherapeutischer Hilfe bedarf, widerspricht nicht dem Bedürfnis dieser Kinder, ein starkes Bewusstsein ihrer emotionalen Reaktionen zu entwickeln und zu lernen, wie sie mit ihnen in einem sozialen Kontext umgehen können.
«Sie müssen fast alles, was Ihnen als Fachleute über Aggression beigebracht wurde, beiseite legen und Ihre Herzen
diesen Not leidenden Kindern öffnen.»
Diese einfache Botschaft legt einen verbindlichen und freundlichen Ton fest, sie bestimmt die gewünschte Kultur und deren Grenzen innerhalb der Einrichtung und teilt die Kinder nicht in gute und böse Menschen auf. Der Ausdruck: du bist hier, um zu lernen und ich bin hier, um dir beim Lernen zu helfen – ist eine andere Art, die Botschaft zu übersetzen. Des Weiteren wird es gewinnbringend sein, die allgemeine Bereitschaft zu vermitteln, alle menschlichen Gefühle anerkennen, sie benennen und über sie sprechen zu wollen. Kinder aus beiden der oben genannten Gruppen werden in dieser Atmosphäre aufblühen und Kindern, die spezifischere Hilfe und Führung bedürfen, wird das Annehmen dieser Hilfe erleichtert.
Anders formuliert müssen Sie und Ihre Kollegen fast alles, was Ihnen als Fachleute über Aggression und wie man mit ihr umgeht beigebracht wurde, beiseite legen und Ihre Herzen diesen Not leidenden Kindern öffnen. Wenn meine Worte Ihnen nicht Grund genug geben, dies zu tun, so ermutige ich Sie, einen ehrlichen Blick auf die pädagogische Praxis und auf die pädagogische Grundhaltung der letzten 30 Jahren zu werfen und sich mit der Tatsache abzufinden, dass diese nicht zufriedenstellend funktioniert haben – weder für individuelle Kinder und ihre Eltern, noch für die pädagogischen Einrichtungen oder für das, was auf den Straßen in der Nacht passiert. Es ist in jeder Einrichtung möglich, Regeln festzulegen, die gewisse Verhaltensmuster unterbinden, aber für jene Kinder, die in der Lage sind, diese Regeln zu befolgen, haben sie nur einen begrenzten Wert. Jene Kinder aber, die es manchmal unmöglich finden, sie zu befolgen, ziehen keinen Nutzen aus ihnen und auch nicht aus den Konsequenzen, die sie erleiden, wenn sie sie brechen.
Einführung von Fachleuten
Es ist wertvoll für alle Kinder, und ganz besonders für die verwundbaren Kinder, wenn Sie Fachleute wie Psychologen, Physiotherapeuten, Logopäden, Ergotherapeuten, Kinder- Neuropsychologen und -psychiater und andere einschlägige Experten in Ihre Einrichtung einladen. Die Aufgabe dieser Menschen ist es, ihre Arbeit den Kindern direkt vorzustellen, sie aufzufordern, ihre Fragen zu stellen und sie einzuladen, am Gespräch teilzunehmen, und ihnen sehr offen und aufrichtig zu erklären, was sie für die Kinder tun können. Dies wird dazu beitragen, ihre verschiedenen Berufe zu entmystifizieren, und es wird die Akzeptanzgrenze unter den Kindern anheben und Hänseln und Drangsalierungen vorbeugen.
Ich bin mir vollkommen bewusst darüber, dass diese Vorschläge mit grösserer Wahrscheinlichkeit von Kindergärten als von Schulen umgesetzt werden. Dennoch ist es wichtig zu betonen, dass viele der traditionellen Aktivitäten wie Malen, Zeichnen, Spielen, Schauspielern, Märchen und Geschichten lesen usw. sehr wertvoll für verwundbare und traumatisierte Kinder sind. Nicht nur wegen ihrer vertrauten Qualitäten, sondern auch, weil sie eine Erfahrung von Normalität vermitteln, die für ihre psychosoziale Entwicklung essenziell ist.
Die Richtlinien, um die bereits bestehende Kultur zu stärken oder eine neue zu erschaffen, sind: Inklusion, Empathie und Freundschaft. Viele Wissenschaftler haben die traurige Tatsache bestätigt, dass Kinder, die diese Qualitäten am dringendsten von Fachkräften brauchen, meist am wenigsten davon bekommen. Lassen Sie sich von verwundbaren und traumatisierten Kindern nicht erschrecken. Machen es Sie zur Gewohnheit, ihr Verhalten als Einladung an Sie und Ihren vielen menschlichen und professionellen Qualitäten zu verstehen.
Die Kolumnen und Beiträge von Jesper Juul entstehen in Zusammenarbeit mit familylab.ch
© Jesper Juul, Familylab International.