Wenn Kinder verstummen

Von Claus Koch

www.clauskoch.info

Nicht gehört und nicht gesehen zu werden, ist für Kinder eine furchtbare Erfahrung. Eine schweigende Umgebung macht sie krank, körperlich und psychisch. Wenn sich die Welt vor ihm zurückzieht, glaubt das Kind, selbst schuld zu sein. Unverstanden in seinen Absichten und wertlos. Ohne Echo verstummen Kinder oder werden, um auf sich aufmerksam zu machen, aggressiv und gewalttätig. Wieder machen sie erneut die Erfahrung, bei anderen damit nicht „anzukommen“. Aus diesem Teufelskreis herauszufinden, gelingt nur, wenn solche Kinder eine ihnen fremd gewordene Wärme von Menschen erfahren, die sie so annehmen, wie sie sind. So dass sie dann langsam aus ihrer Erstarrung auftauen.

Davon, wie wichtig solche Resonanzerfahrungen in der Kindheit eines jeden Kindes sind, handelt die Erzählung von Claire Keegan „Das dritte Licht“, die jetzt unter dem Titel „The Quiet Girl“ in unsere Kinos gekommen ist. Behutsam und mit wenigen Worten und Bildern wird erzählt, was mit einem Kind geschieht, das von denen, die ihm am Nächsten sind, „übersehen“ wird.  Wie es verstummt und sich immer mehr vor der Welt zurückzieht. Denn „gehört und gesehen werden“ findet in der Familie der neunjährigen Protagonistin Cáit nicht statt. Ihr Vater ist die meiste Zeit abwesend, die Mutter mit ihren vier Geschwistern völlig überfordert. Buch und Film zeigen, wie Cáit anfängt, nur noch zu beobachten, was um sie herum geschieht, weil sie den Glauben an die eigene Wirksamkeit und den Glauben an sich selbst verloren hat

Jemand, dem die Welt nicht antwortet, verstummt. Seine Stille wird zur Weltverweigerung. Das wird im Buch und Film deutlich, aber doch nur am Rande erwähnt. Denn eigentlich geht es darum, wie Caít in ihren Sommerferien bei Verwandten aus ihrer Weltverschlossenheit herausfindet und sich zögernd immer mehr denen gegenüber nähern und öffnen kann, die sie in ihrer ganz besonderen Art nicht übersehen, sondern wahrnehmen und annehmen. Eine ganz einfache Geschichte darüber, wie ein Mädchen zwischen zwei Menschen, die es respektieren und lieben, langsam zu leuchten beginnt.

Claire Keegan: Das dritte Licht. Berlin: Kein & Aber Verlag 2023

The Quiet Girl (2022). Regie: Colm Bairéad

Claus Koch

Dr. phil. (Psychologie), Diplompsychologe. Bis Juli 2015 Verlagsleiter für den Bereich Sachbuch und Elternratgeber beim Beltz Verlag in Weinheim. 2015 gründete er zusammen Udo Baer das „Pädagogische Institut Berlin“ (PIB). Jahrelange wissenschaftliche Tätigkeit mit dem Schwerpunkt Entwicklungspsychologie des Kindes und Jugendlichen unter psychoanalytischen und bindungstheoretischen Gesichtspunkten, u.a. mit einem Lehrauftrag an der Universität Bielefeld. Publizist und Autor. Zahlreiche Vorträge, Buchveröffentlichungen und Artikel in Fachzeitschriften. Vorstandsmitglied des „Archiv der Zukunft“ (AdZ).

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Stefanie Janßen

    Vielen Dank für den Tipp. Bei uns läuft der Film als Film am Mittwoch am 27.12.23. Da bin ich dabei.

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