Bindungsorientierte Erziehung als Privileg weißer Mütter und Einfallstor für Rechtsextreme?

Von Claus Koch

Seit Wochen erscheint vor der Bezahlschranke auf „zeit-online“ der Kurztext zu einem Artikel über bindungsorientiertes Erziehen als „Ersatzideologie“. Wörtlich ist dort zu lesen: „Stillen, Familienbett, Kitaskepsis: Bindungsorientiertes Erziehen gilt als sanft und achtsam, ist aber auch westlich und elitär. Das spricht zunehmend Rechtsextreme an.“

Völlig verblüfft reiben sich Leserin und Leser täglich von Neuem die Augen: Eine dem Kind zugewandte Erziehung, die zu einer guten Bindung zwischen Eltern und Kind beiträgt und die für jedes Kind auf der Welt seine existenziellen Bedürfnisse nach Sicherheit und Geborgenheit, Vertrauen und Anerkennung, Resonanz und Selbstwert ernstnimmt – eine solche Erziehung als Einfallstor für Rechtsextreme? War es nicht gerade die Erziehungsikone der Nazis, Johanna Haarer, die 1934 in ihrem Buch „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ genau das Gegenteil forderte, nämlich von der „Affenliebe“ zum Kind abzusehen, es wann immer möglich, von sich fernzuhalten, alle seine Bedürfnisse, geliebt und gewürdigt zu werden, zu missachten, damit es bloß nicht „verzärtelt“ wird und später, gelobt sei, was hart macht, ein strammer Nazi und Judenhasser?

Wie also kommt die Autorin Lisa Kreuzmann auf die Idee, bindungsorientierte Erziehung als elitär und in die Nähe von Rechtsextremen zu rücken? Womit wir bei einer offensichtlich immer mehr aus dem Ruder laufenden und sich dazu noch als feministisch begreifenden „Identitätspolitik“ sind. Denn hinter dem natürlichen Bedürfnis eines jeden Kindes nach engen Beziehungen zu seinen primären Bezugspersonen, stecke, so die Autorin, ein biologistisches, die Funktion der Mutter verherrlichenden Familienbild: „Die Bindungsorientierung ist von Anfang an mehr als ein feinfühliger Erziehungsstil achtsamer Eltern gewesen.“ Und weiter: „Mit ihrer Rückbesinnung auf vermeintlich natürliche Instinkte von Müttern bietet sie ein offenes Tor für mütterverherrlichende Glaubenssätze.“ Um das Repertoire identitätspolitischer Vorstellungen vollends auszuschöpfen, seien es mit Bezug auf eine schwedische „Studie“ aus dem Jahr 2022, dazu noch weiße Mütter, denen es darum gehe, die traditionelle Mutterrolle zu ehren, aber, wie dort zu lesen, „nur wenige Mütter, die sich als Feministinnen oder Antirassistinnen verstehen“. Nun denn.

Abgesehen davon, dass nirgendwo geschrieben steht, dass nur weiße Mütter ihren Kindern als primäre Bezugspersonen dienen können und nicht auch Väter oder Eltern gleichgeschlechtlicher Partner – die Keule mit Bezug auf wirre identitätspolitische Vorstellungen gegen eine fürsorgliche Erziehung zu schwingen kommt wie das schräge Spiegelbild von Erziehungsvorstellungen einer Naziikone daher, egal, ob beabsichtigt oder nicht.

Siehe auch: https://theoblog.de/identitaetspolitische-kritik-an-der-bindungstheorie/39581/

Claus Koch

Dr. phil. (Psychologie), Diplompsychologe. Bis Juli 2015 Verlagsleiter für den Bereich Sachbuch und Elternratgeber beim Beltz Verlag in Weinheim. 2015 gründete er zusammen Udo Baer das „Pädagogische Institut Berlin“ (PIB). Jahrelange wissenschaftliche Tätigkeit mit dem Schwerpunkt Entwicklungspsychologie des Kindes und Jugendlichen unter psychoanalytischen und bindungstheoretischen Gesichtspunkten, u.a. mit einem Lehrauftrag an der Universität Bielefeld. Publizist und Autor. Zahlreiche Vorträge, Buchveröffentlichungen und Artikel in Fachzeitschriften. Vorstandsmitglied des „Archiv der Zukunft“ (AdZ).

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