Zur Debatte um den Pisa-Koordinator Andreas Schleicher
Von Claus Koch
„Wir lassen kein Kind zurück“ – diesen Grundsatz haben sich seit vielen Jahren Schulen zu eigen gemacht, die die Würde der ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen achten. Denn nur das Wissen der Schüler*innen, gehört und gesehen, mit und trotz Problemen nicht ausgegrenzt und „abgeschoben“ zu werden, schenkt ihnen das notwendige Vertrauen in ihre Lehrerinnen und in ihre Schule. „Wir lassen kein Kind zurück“ bedeutet auch, dass Schulen, die unter dieser Devise arbeiten, das „Sitzenbleiben“ aus ihrem Lehrplan streichen, eine sowieso recht zweifelhafte Maßnahme, sich der Kinder, die die angestrebte Homogenität der Leistungen einer Klasse gefährden, aus „praktischen Gründen“ zu entledigen. Verschiedene Evaluationsstudien haben im Übrigen zeigen können, dass sich an Schulen, die in diesem Sinne kein Kind zurücklassen wollen, die Leistungen gerade der schwächeren Schüler verbesserten. Das Gefühl für ihre Selbstwirksamkeit nahm ebenso zu wie ihr Selbstwertempfinden, für sich und andere wertvoll zu sein. Kein Kind zurücklassen und zu marginalisieren ist im Übrigen mit Lehrplänen und Schulaufsicht zu vereinbaren und vor allem: es kostet die Schule keinen Cent!
Statt darüber zu diskutieren, wie wir die Schule – gerade auch auf der Beziehungsebene – für alle bessermachen können, findet zurzeit angesichts schwacher PISA-Ergebnisse eine angestrengte Debatte über die Fähigkeiten der Lehrer an deutschen Schulen statt, den Leistungsstand der Schülerinnen und Schüler zu verbessern. Der Koordinator der internationalen PISA-Studie Andreas Schleicher hat mit seinem Befund, Lehrer würden zwar gut verdienen, aber sich nur wenig in Unterricht und Schule engagieren, für Empörung gesorgt. Und die Lehrerverbände keilen zurück, argumentieren mit der Praxisferne des PISA-Bürokraten und fordern seine Ablösung: „Geh doch erstmal selbst in die Schule und unterrichte, dann weißt du, was es heutzutage bedeutet, Lehrer oder Lehrerin zu sein.“ Das gewohnte Ritual.
Nun hat Andreas Schleicher sicherlich Recht, wenn er von den Lehrern ein über den jeweiligen Lehrplan herausreichendes, auch soziales Engagement fordert. Wenn er in diesem Zusammenhang allerdings auf angeblich vorbildliche Schulen in Ländern wie China verweist, widerspricht er sich selbst, denn hier zählen meistens nur Drill und Bestleistungen. Auf der Strecke bleiben Kinder und Jugendliche, die diesem übertriebenen Leitungsanspruch nicht genügen und physisch und psychisch zusammenbrechen. Die Antwort der Lehrerverbände weiß wiederum hinter sich die oft unhaltbaren Zustände an Schulen, sowohl was den Lehrermangel betrifft, die Schulbaulichkeiten und die Schulumgebung. Was jedoch vor allem fehlt, sind die notwendigen Mittel wie Supervision, kollegiale Fallberatung und multiprofessionelle Teams, um – ja, auch dem heutigen Erziehungsauftrag von Schulen! – professionell nachkommen zu können.
Dazu gehört auch, Schulen zu einem bindungssicheren Ort zu machen. Zu einem Ort, an dem sich Kinder und Jugendliche angenommen fühlen. Zu einem Ort, an dem Lehrer mit ausreichender pädagogischer Beziehungskompetenz ihren Schülern begegnen und ihnen das Gefühl geben, mehr als nur die Adressaten von purer Wissensvermittlung zu sein. Was hat denn diejenigen Lehrer*innen ausgezeichnet, an die wir uns als Erwachsene noch gerne erinnern? Es waren nicht die, bei denen wir tun und lassen konnten, was wir wollten, von denen wir immer eine gute Note bekamen, egal ob wir lernten oder nicht, oder die, die „ohne Rücksicht auf Verluste“ nur stur dem Lehrplan folgten. Es waren Lehrer*innen, von denen wir uns ganzheitlich angenommen fühlten, bei denen wir gespürt haben, ihnen unser Vertrauen schenken zu können, weil sie uns Vertrauen schenkten. Auch dieses eigentlich selbstverständliche Engagement kostet weder Geld noch zusätzliche Arbeitszeit. Die Grundlagen pädagogischer Beziehungskompetenz aber sollten in den Ausbildungsplänen fest verankert werden. Dazu allerdings bedarf es keiner einzigen methodisch ausgeklügelten PISA-Studie. Ein gesunder Menschenverstand reicht aus.
Freiheit oder die Suche nach Identität und Sinn
Das Leben und die Gefühle junger Erwachsener von heute aus bindungstheoretischer Perspektive und wie Eltern und andere Bezugspersonen sie in ihren „Odysseusjahren“ angemessen und feinfühlig begleiten können.
Am 17. Februar 2024 erscheint mein neues Buch „Wenn aus Jugendlichen Erwachsene werden. Leben und Bindung junger Menschen zwischen 18 und 30 Jahren“ im Verlag Klett-Cotta.