Erneut wurde Ende Mai dieses Jahres mit dem „Missbrauchskomplex Wermelskirchen“ ein Fall von Kindesmissbrauch gegenüber Säuglingen, Kleinkindern und Kindern öffentlich. Dieses Mal fand er nicht wie so oft im engeren oder weiteren Familienkreis statt, sondern über verschiedene Onlineplattformen soll sich der Täter den ahnungslosen Eltern über Jahre hinweg als „Babysitter“ angeboten und auf diese Weise seine Opfer ausgesucht haben. Natürlich stellt sich wieder einmal die Frage nach den Beweggründen für die – auch aus professioneller Sicht – kaum noch nachvollziehbare Brutalität, mit der er, so wie viele andere vor ihm, vorging. Wieder handelte es sich beim Täter um einen bislang unbescholtenen und unauffälligen Mann aus der Mitte der Gesellschaft. Völlig gefühllos und akribisch wie ein Buchhalter ordnete er seine Bilddateien, um sie anderen zur Verfügung zu stellen. War er in seiner Kindheit selbst Opfer von sexuellem Missbrauch gewesen? Fehlte es ihm wie anderen Tätern, die sich an Kindern schuldig machen, im wirklichen Leben an Macht, die er nun gegenüber den Schwächsten in unserer Gesellschaft endlich ausleben konnte? Oder wollte er Geld mit seinem sadistischen Tun verdienen? Nur die Hälfte derer, die sich an Kindern vergehen sind im klinischen Sinn pädophil.
Der Blick sollte aber weiterreichen als nur nach den Beweggründen für das ungeheuerliches Tun von Missbrauchstätern zu suchen. Wie ist es möglich, dass Eltern sich über das Internet einen Fremden als Babysitter besorgen und diesem ihr Kind anvertrauen? Ahnungslosigkeit oder eine Notlage, aus der heraus sie nicht anders handeln konnten? Zum Beispiel, weil die alleinerziehende Mutter abends an der Supermarktkasse nicht bei ihrem Kind sein konnte? Warum haben die Eltern der Kinder, die er gefilmt und an denen er sich vergangen hat, wie es heißt, nichts bemerkt: Die Spuren körperlicher Gewalt, ihr langsames Verstummen, der leere Blick am Abendbrottisch, die Alpträume, ihr Verlorensein. Dasselbe gilt für Erzieher*innen und Lehrer*innen, denen diese Kinder anvertraut waren. Für die auffälligen Folgen von Kindesmissbrauch sind sie nur in den wenigsten Fällen ausgebildet. Und wenn sie etwas bemerken, fehlt ihnen die Zeit und die fachliche Beratung. Den Eltern wiederum fehlen qualifizierte Anlaufstellen, denen sie sich, auch anonym, anvertrauen können.
Im Gegensatz zur „MeToo-Debatte“, die seit Jahren mit unzähligen Berichten in der Öffentlichkeit stattfindet, ist Kindesmissbrauch immer nur dann Gegenstand öffentlicher Debatten, wenn wieder „ein Skandal“ aufgedeckt wurde. Und dies, obwohl der Kriminalstatistik zufolge jeden Tag 50 Kinder Opfer sexueller Gewalt werden, die Dunkelziffer dürfte weit höher liegen. Der Grund: Kinder haben in unserer Gesellschaft nur wenige Fürsprecher. Opfer von Kindesmissbrauch werden überhört, übersehen und allein gelassen. Missbrauchte Kinder haben keine „MeToo“ Bewegung, weil sie nicht wie die Erwachsenen sagen können: „Me too – Ich auch.“ Weil sie traumatisiert sind und ihnen, wenn sie doch leise anfangen zu sprechen, keiner zuhört oder niemand glauben will. Letzteres ist der eigentliche Skandal.
Sehr geehrter Dr. Koch,
als langjährige pädagogische Fachkraft mit traumapädagogischer und spielpädagogischer Weiterbildung komme ich im beruflichen Kontext oftmals mit Lehrern und Erziehern in Kontakt. Bei Verhaltensauffälligkeiten, impulsiven Verhalten seitens der Kinder und unzähligen weiteren Beobachtungen Versuche ich oftmals, vergeblich, mit dem Fachpersonal in den Dialog zu kommen. Ich stelle oftmals fest dass, wenn ich bestimmte Situationen mit nicht altersentsprechendem Entwicklungsverhalten der Kinder konkret anspreche, die Fachkollegen ausweichen, das Thema wechseln oder bestimmte Situationen herunter spielen. Dieses Verhalten beobachte ich auch an Schulleitungen, Kitaleitungen oder Abteilungsleitungen.
Somit bleibt mir meistens nur Präsenz gegenüber dem Kind zu zeigen, um somit einen sicheren Ort zu kreieren und den Kollegen zu signalisieren, dass ich genau hinschaue.
Desweiteren habe ich den Eindruck, etliche Pädagogen sind selbst betroffen oder anderweitig traumatisiert und somit nicht offen für eine sensible Haltung gegenüber den ihnen anvertrauten Kindern.
Leider beobachte ich zum Teil übergriffiges Sozialverhalten vonseiten der Fachkollegen gegenüber anderen Fachkollegen und den zu betreuenden Kindern.
Kinderschutz steht leider noch nicht ganz oben auf der Prioritätenliste von Schulen und Kitas, wird in Konzepten marginal abgehandelt.
Einzig in Köln habe ich erlebt, dass das pädagogische Fachpersonal von der Kriminalpolizei geschult und sensibilisiert wurde genauer hinzuschauen und sich Unterstützung bei einem Verdachtsfall über eine anonyme Telefonnummer zu sichern.
In Berlin erlebe ich zurzeit, bedingt durch viel zu große Kita- und Hortgruppen, eine massive Überforderung der Kollegen besonders in den Problembezirken. Satt und trocken, mehr geht kaum bei 35 bis 50 Kinder auf 60 – 70 qm mit fünf fachlich gut ausgebildeten Betreuern, allein aufgrund der enormen Lautstärke.
Ich beobachte eine zunehmende Agressivität unter den Erwachsenen, den Kindern und zwischen beiden Altersgruppen. Nur 1% aller Mißbrauchfälle wird überhaupt durch das Jugendamt und die Polizei aktenkundig.
Ich wünsche mir grundsätzlich fachliche Fortbildungen für pädagogisches Personal und Lehrer auf einem höheren fortlaufenden Niveau.
Bis dahin werde ich weiter die Augen und Ohren offen halten und betroffenen Kindern ein klein wenig Sicherheit und Humor schenken.
Mit freundlichen Grüßen
Stefanie Wilke