Wenn Eltern ihre Kinder schlagen – aus aktuellem Anlass

Von Claus Koch

 

Erst im Jahr 2000 wurden in Deutschland alle Körperstrafen in der Kindererziehung aufgrund eines Gesetzes zur Ächtung von Gewalt in der Erziehung verboten. Doch zwanzig Jahre später zeigt eine aktuelle und repräsentative Studie des Uniklinikums Ulm im Auftrag des Deutschen Kinderschutzbundes und von UNICEF, dass das Schlagen von Kindern als Erziehungsmaßnahme bei einem großen Teil der deutschen Bevölkerung nach wie vor ziemlich verbreitet ist. So hält jede/r Zweite einen Klaps auf den Po für angebracht, jede/r Sechste sogar Ohrfeigen. Da sich heutzutage immer weniger Menschen unverhohlen für Gewalt gegen Kinder aussprechen, dürfte die Dunkelziffer derer, die Schläge als ein geeignetes Mittel zur Erziehung sehen, wohl noch höher liegen.

Körperliche Gewalt galt für die überwiegende Anzahl von Eltern bis weit in die 1960er Jahre hinein als gängiges Erziehungsmittel. Dahinter verbarg sich ein von „Expert*innen“ verbreitetes Bild vom Kind als ein chaotisches, geradezu zerstörerisches und lediglich auf sich bedachtes Wesen, das nur mit Strafen, und sei es unter Anwendung körperlicher Gewalt, „sozialisiert“ werden könne. Verschiedene gewaltausübende Strafrituale gegen Kinder waren damit neben anderen erzieherischen Sanktionen in den Familien weit verbreitet.

Solche, von der „Obrigkeit“ zusätzlich legitimierten gewaltsamen Erziehungsmethoden, auf die man sich als Eltern jederzeit berufen konnte, gibt es heute zum Glück nicht mehr. Vor allem deswegen, weil sich auch das Bild von Kind im Rahmen von Säuglingsforschung und Entwicklungsbeobachtung von Kindern und Jugendlichen seit Mitte der 1960er Jahre radikal verändert hat. Der Säugling und das Kind gelten heutzutage den meisten nicht länger als asoziale und defizitäre, sondern im Gegenteil, als soziale, seinen primären Bezugspersonen zugewandte und nach Kooperation strebende Wesen. Gleichzeitig gibt es aber immer noch, auch in manchen Elternratgebern, den Versuch, ein überkommenes Bild vom Kind wieder neu zu beleben. Dann werden Kinder zu Tyrannen und Egoisten, denen ein bisschen erzieherische Strenge nicht schadet.

Bei einigen, die in der Erziehung mehr oder minder offen Gewalt gegenüber Kindern propagieren oder eben auch anwenden, mögen solche überholte und streng autoritäre Vorstellungen weiterhin vorhanden sein. Doch bei vielen offenbart sich in den körperlichen Strafen auch eine tief empfundene Hilflosigkeit, mit den Kindern und ihren als Aufsässigkeit empfundenen Reaktionen fertig zu werden. Es handelt sich dabei um eine Form von elterlicher Überforderung, die (gerade auch in Coronazeiten) häufig auf einem hohen Maß an Alltagsstress beruht, oft auf eigenen Ängsten, mit dem Kind und der gesamten Erziehungssituation nicht mehr klarzukommen. Zudem hat die erwähnte Studie ergeben, dass Befragte mit eigener Gewalterfahrung im Kindesalter Körperstrafen in der Erziehung eher zustimmen als ohne Gewalt aufgewachsene Menschen. Und auch Männer tendieren in der Erziehung mehr zu Gewalt als Frauen. All diesen Eltern mit erhobenem Zeigefinger die Liebe zu ihren Kindern abzusprechen, hilft jedoch nicht weiter, zumal sich vielen von ihnen ihres eigenen Kontrollverlusts auf ihre Kinder durchaus bewusst sind und sie sich schämen, ihren Kindern Gewalt anzutun. Unterstützungsangebote auf kommunaler Ebene, ob in Kitas und Schulen, im Rahmen von Elternkursen oder auch Nachbarschaftshilfe, sind besser geeignet.

Und auch, wenn wir im Alltag als Nachbarn oder unterwegs mitbekommen, dass Eltern ihre Kinder schlagen, bei sich zuhause, im Treppenhaus oder auf der Straße, helfen Empörung oder entwürdigende Kommentare „Wie kann man nur …“ wenig weiter. Sie verstärken nur die Hilflosigkeit betroffener Eltern, und führen dann zu Abwehrreaktionen: „Das geht nur mich etwas an, mischen Sie sich nicht in meine Erziehung ein.“ Ein zunächst einfühlender Kommentar ist also viel geeigneter: „Ja, das kenne ich, auch mir geht es manchmal so, dass ich mit meinem Kind nicht mehr ein und aus weiß.“ Oder: „Kinder können einen ganz schön auf die Palme bringen.“ Um dann fortzufahren: „Dennoch finde ich es nicht richtig Kindern Gewalt anzutun. Vielleicht ist es besser, erst einmal tief durchzuatmen und daran zu denken, wie schlimm es für ein Kind sein muss, wenn die, die es doch so sehr liebt, ihm Gewalt antun. Wie hilflos, ausgeliefert und ohnmächtig sich ein Kind dabei fühlen muss. Da ist es doch besser zu versuchen, erstmal einmal innezuhalten und sich zu überlegen, warum das Kind das macht, was einen so aufregt.“ Es geht also darum, Gewalt gegen Kinder nicht zu rechtfertigen, sondern zunächst einen Zugang zu denen zu finden, die sie, in den meisten Fällen übrigens in einer spontanen Handlung, ausüben. Anders ist es natürlich bei andauernder Gewalt gegen Kinder. Auch hier sollten wir, wenn möglich, zunächst das Gespräch suchen, ehe wir mit der Polizei oder dem Jugendamt drohen. Denn nur in den wenigsten Fällen findet ein Erwachsener Gefallen daran, sein Kind zu schlagen. Dieser Erwachsene aber ist psychisch krank und braucht, neben entsprechenden Maßnahmen zum Schutz des Kindes, selbst Hilfe. Denn hier triggert das Verhalten des Kindes, wie die Studie ja auch festgestellt hat, zumeist vorhandene tiefgehende Verletzungen in der eigenen Kindheit.

Claus Koch

Dr. phil. (Psychologie), Diplompsychologe. Bis Juli 2015 Verlagsleiter für den Bereich Sachbuch und Elternratgeber beim Beltz Verlag in Weinheim. 2015 gründete er zusammen Udo Baer das „Pädagogische Institut Berlin“ (PIB). Jahrelange wissenschaftliche Tätigkeit mit dem Schwerpunkt Entwicklungspsychologie des Kindes und Jugendlichen unter psychoanalytischen und bindungstheoretischen Gesichtspunkten, u.a. mit einem Lehrauftrag an der Universität Bielefeld. Publizist und Autor. Zahlreiche Vorträge, Buchveröffentlichungen und Artikel in Fachzeitschriften. Vorstandsmitglied des „Archiv der Zukunft“ (AdZ).

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