von Dr. Udo Baer
Zu den Monstern der Entwürdigung zählt, Kinder und Jugendliche giftigen Atmosphären auszusetzen. Atmosphären wabern um uns herum und in uns hinein. Giftige Atmosphären sind solche, die Kinder und Jugendliche schleichend vergiften. Zwei Beispiele:
- G. lebt in einer Atmosphäre permanenter Angst. In ihrer Familie gilt,
dass alle anderen eine Bedrohung sein können. Nichts darf wirklich
gut sein. Alles Gute kann sich ja sofort in Schlimmes verwandeln.
Für G. ist diese Atmosphäre selbstverständlich. Sie ist in ihr
von Geburt an aufgewachsen. Auch sie selbst wird paranoid und
kann keine freundschaftlichen Beziehungen zu Mitschüler*innen
aufbauen. Auch die wohlwollendsten Lehrer haben bei ihr keine
Chance. Die Eltern von G. haben in den Kriegen beim Zerfall des
ehemaligen Jugoslawiens als kleine Kinder schlimme Kriegstraumata
erlebt. Flucht, Vergewaltigung, Vertreibung, Denunziation,
Gefangenenlager (Vater) … Diese Atmosphäre hat sie geprägt und
schuf die Wolke der Angst und Bedrohung.
Ein weiteres Beispiel:
- S. ist an allem schuld. So fühlt sie selbst. Andere sagen das nicht.
Aber sie spürt es und sie ist sich sicher. In ihren zwölf Lebensjahren
war das immer schon so. Ihre Mutter ist krank. S. versucht, ihr zu
helfen, kümmert sich um sie, so gut es geht. Aber es geht nicht gut.
Sie kann die Mutter nicht gesund machen, sosehr sie sich auch anstrengt.
Einmal hat sie von der Mutter gehört: »Wegen dir bin ich
krank. Als ich mit dir schwanger wurde, ging das los und seit deiner
Geburt bin ich krank.« Das hat sie nur einmal gehört. Danach nie
wieder. Aber sie spürt es jeden Tag. Die Schuld bestimmt die Atmosphäre,
in der sie lebt.[1]
Diese Kinder und Jugendlichen leben in einer giftigen Dunstwolke und atmen die Atmosphäre ständig ein.
Was brauchen diese Kinder? Zunächst ist es wichtig, dass Fachkräfte, die diese Kinder pädagogisch oder therapeutisch begleiten, solche Atmosphären als giftig identifizieren. Denn für die Kinder und Jugendlichen sind sie selbstverständlich geworden. Die Kinder bringen die Belastung und den Druck, der durch eine giftige Atmosphäre entsteht, nicht mit den Atmosphären in Verbindung. Und meistens erkennen sie die Quellen dieser Atmosphären nicht. Deshalb kann es helfen, wenn die Kinder dafür alt genug sind, mit den Kindern darüber zu reden.
Sinnvoll ist es, soweit möglich, auch mit den Eltern zu reden und gemeinsam nach Wegen der Entgiftung zu suchen.
Darüber hinaus hilft nur, dass die Kinder und Jugendlichen sich möglichst den giftigen Atmosphären entziehen und für sich entsprechende Räume schaffen. Schule und Kita können solche Räume sein, auch Sportvereine, Jugendgruppen, Musikschulen, Chöre, Theater – und Tanzgruppen. Wir sollten Kinder und Jugendliche dazu ermutigen, wenn wir giftige Atmosphären identifizieren und daran nichts geändert werden kann.
[1] Die Beispiele sind aus: Baer, Udo (2019): Was hochbelastete Kinder brauchen – Praxishandbuch für Begleitung und Betreuung. Stuttgart