Wenn Kinder ins Leere gehen

Viele Menschen sehnen sich danach, dass in ihnen und um sie herum endlich einmal „nichts los ist“ und sie Leere um sich und in sich spüren. Gerade nach großen Anstrengungen und Situationen der Überforderung ist eine solche Sehnsucht verständlich und weit verbreitet. Doch um diese als angenehm empfundene Leere geht es hier nicht.

Wenn Kinder in Not sind und um Hilfe rufen, aber keine Hilfe erhalten, dann gehen sie ins Leere. Wenn sie jemanden anschauen und der Blick nicht erwidert wird, wenn sie die Hände nach jemandem ausstrecken, aber ins Leere greifen, dann gibt es kein greifbares Gegenüber, sondern sie machen Erfahrungen mit einem Leere-Gegenüber. Oft haben solche Kinder derartige Erfahrungen mit nahen Bezugspersonen, meistens mit den Eltern, gemacht. Egal, wie sie sich verhielten, sie gingen ins Leere. Es gab keine Reaktionen oder immer nur die gleichen. Sie hatten niemanden, an dem sie sich reiben konnten, und konnten so ihre Kraft und ihre Eigenheit nicht spüren und diese Aspekte ihrer Identität nicht entwickeln. Besonders starke und nachhaltige Wirkungen haben solche Leere-Erfahrungen, wenn Kinder Unterstützung nach Situationen der Not, z. B. der Gewalt, brauchen.

Häufig bleibt nach wiederholten Erfahrungen mit einem Leere-Gegenüber eine chronische Verunsicherung zurück. Häufig auch Selbstzweifel, die nicht nur das übliche Maß haben, das alle Kinder und Erwachsenen durchleben, sondern die hier von existenzieller Bedeutung sind: „Ich weiß nicht, wer ich bin. Ich weiß nicht, ob ich es wert bin, zu leben. Ich weiß nicht, ob ich es wert bin, überhaupt wahrgenommen zu werden.“ Solche Selbsteinschätzungen finden wir häufig bei Kindern mit wiederholten Leere-Erfahrungen.

Manche dieser Kinder ziehen sich dauerhaft zurück und vermeiden jeden Kontakt. Sie resignieren und schützen sich davor, wieder die leidvolle Erfahrung der Leere machen zu müssen. Andere haben gar keine Vorstellung, was es heißt, selbst ein Gegenüber zu sein oder ein Gegenüber zu spüren. Und wieder andere suchen krampfhaft nach einem Gegenüber, wollen sich „mal richtig reiben“, wie ein Kind es formulierte. Sie werden aggressiv, provokativ und suchen zwanghaft Streit. Diese Kinder haben kein Maß in Auseinandersetzungen. Die Leere umfasst kein Maß, sodass die Maßlosigkeit eine zwangsläufige Folge für viele dieser Menschen ist.

 

Selbstverständlich brauchen diese Kinder, dass sie neue Erfahrungen des Maßes machen, dass ihnen Grenzen gesetzt werden, dass sie unterstützt werden in ihrer Suche nach Möglichkeiten positiver Reibung. Vor allem aber brauchen diese Kinder Erfahrungen von Wirksamkeit. Wirksamkeitserfahrungen können darin bestehen, dass sie z. B. kreativ tätig sind und etwas gestalten, also Erfahrungen machen, dass sie nicht ins Leere gehen, sondern wirksam etwas verändern und bewegen können. Vor allem aber brauchen diese Kinder Erfahrungen der Beziehungswirksamkeit, denn ihre Leere-Erfahrungen sind vor allem Beziehungserfahrungen mit anderen Menschen gewesen. Pädagogen/innen sollten darauf achten, solche Kinder nicht ins Leere gehen lassen und schon gar nicht Leere und Kontaktabbruch als Strafe einsetzen, sondern die Haltung vermitteln: „ich nehme dich ernst“. Dann können diese Kinder Erfahrungen von Beziehungswirksamkeit machen und müssen nicht mehr zwischen Resignation und Provokation hin und her pendeln. Wo immer möglich, sollten Pädagogen/innen und Erzieher/innen diese Erfahrungen von Beziehungswirksamkeit vermitteln.

Udo Baer

Dr. phil. (Gesundheitswissenschaften), Diplom-Pädagoge, Kreativer Leibtherapeut AKL, Mitbegründer und Wissenschaftlicher Berater der Zukunftswerkstatt therapie kreativ, Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für soziale Innovationen (ISI) sowie des Instituts für Gerontopsychiatrie (IGP), Vorsitzender der Stiftung Würde, Mitinhaber des Pädagogischen Instituts Berlin (PIB), Autor

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Monika Hehl

    Lieber Herr Baer,
    vielen Dank für diesen Artikel, der meinem Empfinden aus der Kindheit Worte verleiht und es dadurch real und greifbar macht.

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