Gegen Druck hilft Drücken 1

Mit spürenden Begegnungen…also Fühlerfahrungen mit anderen Menschen und mit Dingen, erschließen sich Kleinkinder die Welt. Sie brauchen zugewandte, positive, Nähe um sich gesund entwickeln zu können. „Fühlen“ als taktile Erfahrung und „Fühlen“ im Sinne von Gefühl hängen eng miteinander zusammen.

Gedrückt werden heisst Halt erfahren

Druck zu spüren, kennen alle Menschen: Erzieherinnen und Erzieher sowie andere Fachkräfte, die Kleinkinder begleiten, Mütter und Väter und auch die kleinen Kinder selbst. Ab den ersten Stunden der Geburt müssen Säuglinge und Kleinkinder lernen, die anderen zu verstehen und sich in der Welt zu orientieren, für die eigenen Bedürfnisse zu sorgen und die der anderen Menschen zu respektieren. Das ist eine unglaubliche Leistung. Meist gelingt sie, manchmal gibt es Probleme und Schwierigkeiten. Das macht Druck, manchmal sind die kleinen Menschen überfordert. Wenn wir Erwachsene Druck verspüren, empfehlen wir uns und anderen: Gegen Druck hilft Drücken. Jemanden zu umarmen und umarmt zu werden, einen anderen Mensch fest oder zart zu drücken und dies auch vom anderen zu spüren, das hilft. Wie bedeutungsvoll das ist und wie das geht, haben wir von den kleinen Kindern gelernt. Sie fordern ein, gedrückt zu werden, und reagieren darauf.

Zwei Bedeutungen – die miteinander zusammenhängen

Wenn zwei Menschen sich drücken, berühren sie sich. Hier –und nicht nur hier – wird die Doppelbedeutung vieler Wörter in der deutschen Sprache deutlich. Druck kann psychischen oder sozialen Druck beschreiben und auch feste taktile Berührung. Wir Menschen sind durch sinnliche Kontakte ebenso berührt wie durch hochemotionale Begegnungen. Fühlen bezeichnet sowohl das Spüren von Gefühlen als auch das, was wir mit unserem Tastsinn wahrnehmen. Diese Doppelbedeutungen in der Sprache spiegeln den Doppelcharakter unseres Erlebens. Jedes taktile Fühlen beinhaltet auch einen emotionalen Aspekt. Mal ist dieser deutlich spürbar, mal im Hintergrund – doch immer vorhanden. Deswegen sind es die Spürenden Begegnungen, mit denen Säuglinge und Krippenkinder sich der Welt zuwenden und sie sich erschließen. Mit diesem Begriff werden Kerninteraktionen zwischen Menschen bezeichnet, die Selbstbewusstsein schaffen (alsBewusstsein von und über sich selbst), Verletzungen heilen und Beziehungen entwickeln können: das Sehen und Gesehen-Werden, das Tönen und Hören, das Drücken und Gedrückt-Werden, das Greifen und Ergriffen-Werden sowie das Lehnen. Die Blicke, die Begegnungen der Augen sind mehr als das Einholen von Informationen. Der „Tanz der Augen“ ist eine seelische Begegnung. Wenn die kleinen Kinder wimmern, lallen oder schreien, nehmen wir Erwachsene auch ihre Bedürfnisse, ihre Lust und ihre Schmerzen wahr. Im Greifen be-greifen Kinder die Welt. Wenn sie andere drücken, spüren sie Halt (solange sie nicht er-drückt werden), ihre Kraft und die der anderen. Wenn sie sich anlehnen, sich als kleine Kinder in uns Erwachsene hineinlehnen, erfahren sie Geborgenheit. Deswegen fördern alle aktiven taktilen Begegnungen, die Krippenkindern angeboten werden, nicht nur ihre Motorik und Sinneswahrnehmung, sondern auch ihre Fähigkeiten, psychisch zu wachsen und soziale Begegnungen zu leben.


Udo Baer

Dr. phil. (Gesundheitswissenschaften), Diplom-Pädagoge, Kreativer Leibtherapeut AKL, Mitbegründer und Wissenschaftlicher Berater der Zukunftswerkstatt therapie kreativ, Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für soziale Innovationen (ISI) sowie des Instituts für Gerontopsychiatrie (IGP), Vorsitzender der Stiftung Würde, Mitinhaber des Pädagogischen Instituts Berlin (PIB), Autor

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