SERIE Spürende Begegnungen mit Kindern und Jugendlichen (1): Quellen des Konzeptes und das Schauen

Viele Fachkräfte machen die Erfahrung, dass der Klang der Stimme manchmal mehr über die Befindlichkeit der Menschen aussagt, mit denen sie arbeiten, als der Inhalt der Worte. Auch der Blickkontakt über die Augen kann oft mehr bewirken (oder verhindern) als das gesprochene Wort. Das Konzept der Spürenden Begegnungen greift solche Erfahrungen auf, vertieft sie theoretisch und praktisch und bietet ein Instrument der Begegnung, das in vielen Bereichen sozialer und pädagogischer Arbeit eingesetzt werden kann. Von der Gefährdetenhilfe bis zur Altenarbeit, vom Kindergarten bis zum Jugendzentrum oder Frauenhaus. In diesem Beitrag werde ich in einem ersten Teil die Grundlagen des Verständnisses Spürender Begegnungen herausarbeiten. In folgenden Teilen werde ich genauer darauf eingehen, wie die Spürenden Begegnungen in der Arbeit mit Kindern genutzt werden können.

Das Konzept der Spürenden Begegnungen arbeitet mit den fünf grundlegenden Interaktionen zwischen Menschen:

  • schauen und gesehen werden
  • tönen und gehört werden
  • greifen und ergriffen werden
  • drücken und gedrückt werden
  • lehnen (statt abgelehnt werden)

Dies sind Interaktionen als motorisch-sinnliche Begegnungen und es sind gleichzeitig Begegnungen und Interaktionen des Erlebens.

Quellen des Konzeptes

Das Konzept der Spürenden Begegnungen beruht auf der Theorie der Primären Leibbewegungen (Baer, Frick-Baer). Mit Leib wird in der Tradition der phänomenologischen Philosophie der erlebende Mensch bezeichnet (Husserl, Merleau-Ponty, Waldenfels, Schmitz, Fuchs u. a.). Es geht beim Schauen und Gesehen-Werden also nicht um die körperlich-sensorischen Fähigkeiten eines Menschen, sondern um sein Erleben. Wenn ein Kind von seiner Mutter übersehen wird oder eine Frau von ihrem Partner einen beschämenden Blick spürt, ist dies nicht durch veränderte Sehstärken der Brillen zu verändern, also nicht durch rein körperbezogene Interventionen, sondern durch eine andere Haltung, durch Begegnungen mit anderen Erlebensqualitäten.

Eine Quelle der Primären Leibbewegungen ist die phänomenologische Therapieforschung, in der nachhaltig wirksame therapeutische Interaktionen untersucht und dabei die Primären Leibbewegungen herausgearbeitet wurden (Baer, Frick-Baer). Wichtiger noch ist die Säuglingsforschung (Stern, Dornes u. a.). Die genannten fünf Leibbewegungen sind die ersten Lebens- und Erlebensäußerungen von Säuglingen. Säuglinge lehnen sich in den Arm der Mutter oder anderer Betreuungspersonen. Sie schauen und beginnen die Begegnung mit der Mutter, dem Vater u. a. über die Augen. Sie drücken z. B. die Milchflasche an sich oder von sich weg. Sie drücken ihr Köpfchen beim Stillen an die Brust oder drücken sich mit dem ganzen Körper weg, etwa wenn sie die Arme der Erwachsenen als einengend erleben. Über die Kraft und Ausdrucksstärke ihrer Töne können Eltern so manches Lied singen. Säuglinge greifen schon in den ersten Tagen reflexartig nach einem hingestreckten Finger und nutzen später das Greifen, um sich in die Welt hinauszubewegen. Diese Leibbewegungen sind also auch und vor allem deshalb „primär“, weil in ihnen frühes Erleben zum Ausdruck kommt.

Schauen 

Schon bei der Geburt ist die Augenmuskulatur nahezu vollständig entwickelt; Neugeborene nehmen die Augen der Mutter wahr, ihr Blick wird oft als „offen und unverstellt“ beschrieben. Schon im Alter von acht Wochen beginnen Säuglinge von sich aus direkten Blickkontakt zur Mutter aufzunehmen, suchen den Blick. Im Alter von drei bis sechs Monaten ist die Interaktion zwischen Mutter und Kind vor allem eine visuelle, ein Tanz der Blicke. Das Kind kann in dieser Lebensphase „Bewegungen seiner Gliedmaßen sowie die Augen-Hand-Koordination erst geringfügig kontrollieren. Dagegen ist das visuell-motorische System schon nahezu ausgereift, und im Blickverhalten ist das Kind ein erstaunlich tüchtiger Interaktionspartner. Der Blickkontakt ist eine wichtige Form sozialer Kommunikation“ (Stern, 1992, S.39). In dieser Phase sollte dem Säugling die Kontrolle über den Beginn und das Ende des Blickkontaktes überlassen werden, da dies eine wichtige und notwendige Voraussetzung für die Entwicklung des Selbstempfindens des Säuglings ist.

Im späteren Leben zeigen sich im Dialog der Blicke alle Qualitäten des Erlebens. Blicke gehen ins Leere, Menschen werden übersehen. Blicke können verachten oder würdigen, beschämen oder ernst nehmen usw.

Udo Baer

Dr. phil. (Gesundheitswissenschaften), Diplom-Pädagoge, Kreativer Leibtherapeut AKL, Mitbegründer und Wissenschaftlicher Berater der Zukunftswerkstatt therapie kreativ, Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für soziale Innovationen (ISI) sowie des Instituts für Gerontopsychiatrie (IGP), Vorsitzender der Stiftung Würde, Mitinhaber des Pädagogischen Instituts Berlin (PIB), Autor

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