von Udo Baer
Traumatische Erfahrungen bewirken in den Kindern, dass sie in all ihrem Erleben erschüttert sind. Dazu gehört auch ihr Gefühlsleben. Manche Gefühle verschwinden scheinbar, andere werden stärker, wieder andere verändern sich in ihren Inhalten und ihrem Ausdruck. Deswegen werde ich in den folgenden Abschnitten auf einige dieser Gefühle eingehen, die Veränderungen durch traumatische Erfahrungen beschreiben und Ihnen Hinweise geben, wie Sie damit umgehen können.
Bei allen Kindern ist wie bei uns Erwachsenen zu beobachten, dass der Verlauf von Aufgeregtheit und Entspannung in unterschiedlichen Phasen und Intensitäten aufeinander folgt. Sie werden Kinder kennen, die sehr aufgeregt sind, sich danach beruhigen, allein oder mit Hilfe anderer, und andere, die auf einem relativ hohen Erregungsniveau bleiben oder aber eher zu den stillen und ruhigen Kindern zählen. Die Erregungsverläufe sind typisch für alle Menschen, sie gehören zu den Grundqualitäten des Erlebens.
Bei Kindern mit traumatischen Erfahrungen sind häufig zwei Besonderheiten festzustellen. Zum einen kann das Erregungsniveau extrem schwanken. Phasen sehr hoher Erregung wechseln ab mit Phasen des Rückzugs und der scheinbaren Regungslosigkeit. Andere Kinder bleiben auf einem stetig hohen Erregungsniveau und drohen bei jedem kleinen Anlass zu explodieren. Dabei ist es unwichtig, ob die Erregung positive Freude ausdrückt oder Ärger und Zorn, entscheidend sind hier nicht die Qualität und der Inhalt der Erregung, sondern das Erregungsniveau.
Dass sich das Erregungsniveau bei traumatisierten Kindern so verändert, ist gut nachvollziehbar. Viele Attacken des Schreckens erfolgten überraschend, sodass überraschende und abrupte Erregungswechsel ein Ausdruck dieser Erfahrungen fortführen können und jede traumatische Erfahrung ist eine existenzielle Bedrohung, wie wir beschrieben haben, und existenzielle Bedrohungen sind aufregend. Deswegen kann dieses hohe Erregungsniveau sich bei traumatisierten Kindern in der Folge festsetzen.
Eine Hilfe sollte folglich darin bestehen, diese Kinder gemeinsam mit anderen Kindern darin zu unterstützen, ihr Erregungsniveau zu reduzieren. Das ist gar nicht so einfach, weil die Triebkraft der hohen Erregung, die traumatische Angst und der traumatische Schrecken, immer wieder neue Impulse der Hocherregung produzieren können. Dazu gebe ich hier einige Hinweise und Empfehlungen.
Wichtig ist vor allem, dass Sie nicht davon ausgehen können, dass Erregung reduziert werden kann, indem Entspannung angeboten wird. Einzelne Kinder reagieren darauf, doch die meisten brauchen zunächst eine Möglichkeit ihre Erregung austoben und ausagieren zu können, bevor sie heruntergefahren werden kann.
Ganz wesentlich ist, dass die Kinder wegen ihrer Erregung nicht ausgeschimpft werden und Ablehnung erfahren. Sie brauchen Grenzen, aber keine Strafen und Beschimpfungen. Die Erregung ist ein Ausdruck der Not, mit der das Kind in der traumatischen Situation ins Leere gegangen ist. Wenn die Erregung nun in der Kita auftaucht, braucht sie ein Gegenüber. Das kann angeboten werden durch Rollenspiele als Gruppe, durch gemeinsames Toben mit Regeln und durch sportliche Aktivitäten.
Auch zu werken, zum Beispiel mit einem Hammer Nägel hineinzuschlagen, kann eine gute Möglichkeit sein, Erregungsschübe auszuagieren und umzusetzen in konstruktives Tun. Diese Kinder haben nicht die Möglichkeit ihre Erregung einfach abzuschalten, deswegen ist es wichtig sie umzulenken und dabei zu richten.
Die Kinder dürfen mit ihrer Erregung nicht alleine sein, denn sie brauchen Kontakt und Begegnung, vor allen Dingen Verlässlichkeit statt verlassen zu werden.
Viele Kinder im Vorschulalter kämpfen gerne. Nicht nur Jungen, oft auch Mädchen. Diese Kämpfe verlieren bei traumatisierten Kindern oft ihren spielerischen Charakter und werden sehr ernst. Ein Beispiel:
Ibrahim ist sechs Jahre alt. Er ist seit zwei Monaten in der Kita. Er ist aufgeweckt, neugierig, beobachtet viel, sucht Kontakt. Er kann auch schon relativ gut Deutsch sprechen. Er eckt immer an, er will immer der erste sein, würde nie den Ball oder einen anderen Gegenstand abgeben. Er möchte schon so groß sein und so wirksam und so mächtig, dass andere Kinder damit nicht fertigwerden und sich darüber beklagen. Wenn ihm etwas nicht passt, dann schubst er andere Kinder, was weh tut und zu Auseinandersetzungen führt.
Ibrahim kommt aus Tunesien. Er lebte dort zwei Jahre bei Verwandten, sein Vater sitzt im Gefängnis, die Mutter war in dieser Zeit schon in Deutschland und hatte ihn zurückgelassen. Dort wurde er ständig geschlagen, er hatte Brüche und blaue Flecken, als er schließlich in Deutschland einreiste und zu seiner Mutter kam. Sein Onkel, der Bruder der Mutter, erbarmte sich seiner und nahm ihn, um ihn nach Deutschland zur Mutter zu bringen. Sie fuhren mit einem Schlauchboot nach Italien, das Boot sank, der Onkel ertrank, Ibrahim überlebte.
Dass dieser Junge verstört ist, dass er wirksam sein will, dass er Macht ausüben möchte, um nicht weiter Opfer zu sein, ist nachvollziehbar. Sich umzustellen und zu erfahren und zu realisieren, dass er hier nicht mehr kämpfen muss, dass er hier nicht alleine und hilflos ist, braucht Zeit. Er muss immer wieder die Regeln erfahren, wie er mit seiner Hocherregung umgeht, wie er Wirksamkeits-Erfahrungen machen kann mit anderen Kindern, mit den Erziehern/Erzieherinnen, mit Material und Gegenständen. Er braucht Möglichkeiten, mit seiner Erregung spielerisch und konstruktiv umzugehen. Er baut gerne mit Holz, weswegen er eine Werkecke bekam, wo er mit zwei anderen Kindern, die ebenfalls gerne mit Holz arbeiten, hämmern, bohren und sägen, tätig werden konnte. Dies geschah selbstverständlich unter Aufsicht, doch die Kinder lernten hier viel, selbständig zu arbeiten, jeder für sich und gemeinsam. Wenn sie sägten, hämmerten oder bohrten, ließ ihre Hocherregung nach und sie konnten anders als durch Aggressivität geprägt miteinander umgehen.