Traumatisierte Kinder sensibel begleiten, Teil 11: Was tun bei »seltsamen« Gefühlen traumatisierter Kinder? – Mitgefühl

 

von Dr. Udo Baer

Traumatische Erfahrungen bewirken in den Kindern, dass sie in all ihrem Erleben erschüttert sind. Dazu gehört auch ihr Gefühlsleben. Manche Gefühle verschwinden scheinbar, andere werden stärker, wieder andere verändern sich in ihren Inhalten und ihrem Ausdruck. Deswegen werde ich in den folgenden Abschnitten auf einige dieser Gefühle eingehen, die Veränderungen durch traumatische Erfahrungen beschreiben und Ihnen Hinweise geben, wie Sie damit umgehen können.

Das Mitgefühl ist die Fähigkeit, sich in das Leid und in die Freude anderer Menschen hineinzuversetzen. Lachen steckt an, genauso wie der Schmerz und das Weinen. Das Mitgefühl ist ein besonders wichtiges Gefühl für ein humanes Miteinander. Das Leid oder auch das mögliche Leid des anderen zu spüren, bremst die eigene Aggressivität und fördert die Solidarität. Alle Kinder verfügen über die Fähigkeit zum Mitgefühl, auch im Vorschulalter. Wie sie es leben und wie sie es umsetzen, das müssen sie lernen. Dafür brauchen sie gute Vorbilder durch uns Erwachsene.

Traumatisierte Kinder zeigen manchmal seltsam erscheinende Formen des Mitgefühls. Manche sind durch ihre traumatischen Erfahrungen so dünnhäutig geworden, dass sie es kaum aushalten, wenn jemand anderes einen Schmerz empfindet.

Beispiel

Die kleine Alina beginnt jedes Mal zu weinen und wird kreidebleich, wenn sich ein anderes Kind wehtut, zum Beispiel sich an einem Tisch stößt oder hinfällt. Als eine Erzieherin sich einmal geschnitten hatte und die Hand ein wenig blutete, wusste Alina nicht mehr weiter. Sie schrie und weinte herzzerreißend.

Wenn Kinder einen traumatisierten Schrecken und damit Schmerz empfunden haben, dann kann dies die Fähigkeit, sich in den Schmerz anderer hineinzuversetzen, äußerst intensivieren. Der Schmerz der anderen wird dann zum eigenen, triggert aber das traumatische Schmerzerleben so sehr, dass der eigene Schmerz unermesslich wird.

Bei den meisten traumatisierten Kindern verliert sich diese extreme Empfindung des Mitgefühls allmählich. Sie wird im Laufe der Zeit schwächer. Dies allerdings nur, wenn die Kinder Geborgenheit erfahren, also Schutz, Wärme und Vertrautheit.

Es gibt auch Kinder, denen nach einem traumatischen Erleben anscheinend die Fähigkeit zu Mitgefühl abhandengekommen ist. Wenn ein anderes Kind sich wehtut, lachen sie oder ignorieren es bestenfalls. Manchmal neigen sie sogar dazu, andere zu quälen, ihnen in irgendeiner Weise wehzutun. Diese Kinder sind oft selbst so gequält worden, dass die Qual für sie zur Selbstverständlichkeit geworden ist. Vor allem aber haben die Kinder selbst kein Mitgefühl erlitten. Sie sind in der Zeit während und nach den traumatischen Erfahrungen alleine gelassen worden. Wer keinen Trost empfängt, kann andere kaum trösten. Wer kein Mitgefühl anderer für sich erfahren hat, wird auch kein Mitgefühl für sich empfinden und somit auch nicht für andere. Bei Erwachsenen kann diese Erfahrung zu anhaltender Verrohung führen. Bei Kindern sind dies Phasen, aus denen sie wieder herausfinden können. Dazu brauchen sie Hilfe. Sie brauchen all das, was in diesem Buch bislang an Unterstützung, an traumasensibler Hilfe für traumatisierte Kinder beschrieben worden ist. Wenn dies nicht reicht, ist eine zusätzlich therapeutische Hilfe angesagt.

 

Traumatisierte Kinder brauchen Mitgefühl. Zeigen Sie es ihnen immer wieder. Und neue Erfahrungen, damit ihre Dünnhäutigkeit nachlässt.

Udo Baer

Dr. phil. (Gesundheitswissenschaften), Diplom-Pädagoge, Kreativer Leibtherapeut AKL, Mitbegründer und Wissenschaftlicher Berater der Zukunftswerkstatt therapie kreativ, Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für soziale Innovationen (ISI) sowie des Instituts für Gerontopsychiatrie (IGP), Vorsitzender der Stiftung Würde, Mitinhaber des Pädagogischen Instituts Berlin (PIB), Autor

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