Flüchtlingen (nicht) helfen?

Ein Beitrag von Dr. Claus Koch

 

Schon kleine Kinder haben, wie wissenschaftliche Studien zeigen, ein ausgeprägtes Gefühl für Gerechtigkeit. Hindert ein blaues Viereck einen Ball daran, einen Hang hinaufzurollen und ist ein grünes Dreieck hingegen bemüht, dem Ball durch Anschubsen aufwärts zu helfen, bevorzugen schon die Allerkleinsten die Farbe des „Helfers“.

In den vergangenen Wochen ist, angestoßen durch einen zumindest missverständlichen Beitrag in der liberalen Wochenzeitung „Die Zeit“, erneut ein Diskussion darüber entbrannt, ob man in Seenot geratene Flüchtlingen vor dem Ertrinken retten soll, bzw. ob durch solche Rettungsaktionen nicht das Geschäft von Schleusern unterstützt werde, die auf die Rettung von in Seenot geratenen Flüchtlingen schließlich spekulieren würden. Während der Artikel in der „Zeit“ die Frage noch offen ließ, machen fremdenfeindliche Parteien jedweder Couleur keinen Hehl daraus, diese Menschen „zur Abschreckung“ auch mal ertrinken zu lassen. In beiden Fällen geht es um dieselbe Fragestellung, nämlich ob es erlaubt ist, Menschen, die in Seenot geraten, aus einem übergeordneten Prinzip heraus ihrem Schicksal überlassen. Darum, dass die Würde des Menschen eben nicht unteilbar ist, wie es unser Grundgesetz festschreibt, sondern je nach politischer Einschätzung Einschränkungen erlaubt sind.

Zeigt man einem Kind ein Boot mit Flüchtlingen auf dem offenen Meer und würde es fragen, ob es richtig sei, diese Menschen einfach ertrinken zu lassen, würde kaum eines von ihnen zustimmen. Im Gegenteil, nahezu alle Kinder würden darauf bestehen, die Bootsflüchtlinge vor dem Ertrinken zu retten. Spüren die Kinder aber, dass Erwachsene oder eben die Überschrift einer Zeitung nahelegen, nicht einzuschreiten, greift man damit nicht nur die Menschenwürde derer an, die sich hilflos dem Meer ausgesetzt sehen, sondern auch die Würde der Kinder. Weil Erwachsene, die für Kinder ja auch immer Vorbild sind, deren gerechtes Weltbild plötzlich ins Wanken bringen, weil sie an dem Prinzip rütteln, mit jemandem Mit-Leid zu empfinden. Und wenn es diskussionswürdig ist, hilflose Menschen auf dem Meer ihrem Schicksal preiszugeben, um die eigene Haut, in diesem Fall den eigenen Wohlstand zu retten, lässt sich dann eine solche Handlungsweise nicht auch auf andere übertragen, den „Loser“ auf dem Schulhof, den Obdachlosen, der auf der Straße schläft, dem Armen, der in der U-Bahn die Eltern um eine paar Euro für sich anbettelt? Die Kinder lernen plötzlich, dass die Würde eines Menschen ganz offensichtlich nicht für alle gilt, dass hier Ausnahmen gemacht werden dürfen. Es ist dieselbe Logik, mit denen bereits die „Erziehungsexperten“ im Nationalsozialismus den Eltern nahelegten, ihre Kinder auf einen „Feind“ oder „Parasiten“ hin zu erziehen, für den weder Mitgefühl noch Solidarität gilt, der, weil er „uns“ angeblich bedroht, letztendlich auszumerzen ist. Dass diese Parallele nicht so weit hergeholt ist, davon zeugen die jüngsten Aussagen eines australischen Senators, der im Zusammenhang mit dem „Migrationsproblem“ von „Endlösung“ spricht oder die des italienischen Innenministers Salvini, der in diesem Zusammenhang ungeniert von „Menschenfleisch“ redet.

Deshalb: Reden wir, ob als Eltern, Erzieherinnen oder Lehrer mit unseren Kindern über das, was sich vor unseren Augen im Mittelmeer abspielt. Dass Menschenrechte universal gelten und jeder Hilfe und Unterstützung erfährt, wenn er sie braucht. Gerade im Zusammenhang mit dem Flüchtlingselend gilt es, Kindern ihren angeborenen Glauben an das Gute im Menschen zu stärken statt auf die Probe zu stellen. Es ist das Mindeste, was wir Erwachsenen für sie (und die Flüchtlinge auf dem Meer) tun können

Claus Koch

Dr. phil. (Psychologie), Diplompsychologe. Bis Juli 2015 Verlagsleiter für den Bereich Sachbuch und Elternratgeber beim Beltz Verlag in Weinheim. 2015 gründete er zusammen Udo Baer das „Pädagogische Institut Berlin“ (PIB). Jahrelange wissenschaftliche Tätigkeit mit dem Schwerpunkt Entwicklungspsychologie des Kindes und Jugendlichen unter psychoanalytischen und bindungstheoretischen Gesichtspunkten, u.a. mit einem Lehrauftrag an der Universität Bielefeld. Publizist und Autor. Zahlreiche Vorträge, Buchveröffentlichungen und Artikel in Fachzeitschriften. Vorstandsmitglied des „Archiv der Zukunft“ (AdZ).

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