Schulvermeidung und Schulschwänzen als Folge von Corona -Wenn Digitalisierung zu Schulvermeidung und Schulschwänzen führt

von Claus Koch

Eine bislang nur ungern benannte Folge von Corona besteht in der auffälligen Zunahme von Schulvermeidung und Schulschwänzen, wovon laut einer repräsentativen Umfrage der Robert Bosch Stiftung in Kooperation mit der ZEIT Lehrerinnen und Lehrer berichten.* Genaue Fallzahlen liegen nicht vor, denn im Gegensatz zu anderen Ländern wird die längere Abwesenheit von Schüler*innen vom Unterricht in Deutschland kaum oder gar nicht erfasst. Besonders deutlich zeigt sich aber die Zunahme von Schulschwänzen in den sogenannten „Brennpunktschulen“, was einhergeht mit der Beobachtung, dass Lehrer*innen gerade hier ihre Schüler*innen auf digitalem Weg nur unzureichend oder auch gar nicht erreicht haben. Einige von ihnen, die ihren Lehrer*innen buchstäblich verloren gehen, ziehen aus diesem Umstand offensichtlich den Schluss, sich von „ihrer“ Schule ganz zu verabschieden, und zwar auch dann, wenn an den meisten Schulen der Präsenzunterricht wieder stattfindet.

Eine Reihe von Bildungspolitikern folgern aufgrund solcher Beobachtungen, man müsse vor allem die Digitalisierung an den Schulen vorantreiben. Natürlich ist es wünschenswert, dass sowohl aufseiten der Schule als auch aufseiten der Schüler*innen digitale Tools und Endgeräte zur Verfügung stehen, um Lernrückstände zu vermeiden. Fraglich aber ist, ob sich dadurch Phänomene wie Schulvermeidung und Schulschwänzen beheben lassen. Denn ein Grund für zunehmenden Absentismus unter Schüler*innen liegt wohl darin, dass sie sich während der Pandemie nicht nur von ihrer Schule im Stich gelassen fühlten, sondern sich, damit verbunden, auch ihr Schulwissen dramatisch verschlechtert hat. Was daraus folgt sind häufig Resignation und Rückzug, jedoch auch zunehmende Angst und Scham, dass im Präsenzunterricht die entstandenen „Bildungslücken“ vor allen anderen deutlich werden.

Der Grund, „seiner“ Schule auch in Pandemiezeiten buchstäblich „treu“ zu bleiben, hat viel mit den persönlichen Begegnungen zu tun, die in der Schule stattfinden – sowohl mit den pädagogischen Fachkräften als auch und vor allem mit den Mitschüler*innen. Sämtliche Umfragen unter Schüler*innen sprechen diesbezüglich eine deutliche Sprache. Nur die persönliche Ansprache und wohlwollende Unterstützung eines Lehrers oder einer Lehrerin beim Lernen und darüber hinaus die Erfahrung, in Schule und Unterricht unabhängig vom vorhandenen Wissenstand etwas „wert“ zu sein, bindet an Schule. Dies war auch im „normalen“ Schulbetrieb schon nicht immer der Fall, doch die Coronazeit hat, wie so vieles, die Bedeutung persönlichen Austauschs in der Schule wie unter einem Brennglas noch einmal sichtbar werden lassen. Und dies besonders bei denen, denen es aus unterschiedlichen Gründen zuhause daran mangelt. Was nicht nur für die jüngeren Schüler*innen gilt, sondern auch für die Jugendlichen. Dass im Falle von Schulschwänzen selbst dieser Aspekt für diejenigen, die der Schule trotz Präsensunterrichts fernbleiben, keine Rolle mehr spielt, ist ein deutliches Alarmzeichen mit weitreichenden Folgen. Statt zur Schule zu gehen, landen die Kinder und Jugendlichen auf der Straße oder sitzen tage- und nächtelang vor ihrer Spielkonsole.

Der beständige Ruf nach Digitalisierung von Schule ist hier kein Allheilmittel. Sie kann, im Gegenteil, dazu führen, dass sich Schüler*innen, bei denen das Display ihres Handys die persönliche Beziehung ersetzt, noch mehr von „ihrer“ Schule entfremden. Schule ist eben nicht nur Lernort, sondern auf ihren Gängen, an Schulhofecken und in den Begegnungen vor und nach dem Unterricht entsteht ein Raum für Beziehungen. Hier kann man sich mit Gleichaltrigen austauschen: das Gefühl, mit den Folgen der Pandemie nicht allein zurückgelassen zu werden, macht Mut.

Erfreulich ist, dass in derselben Studie eine Mehrheit der Lehrer*innen der persönlichen Begegnung mit ihren Schüler*innen gerade in Pandemiezeiten höchste Priorität einräumt. Sie haben erkannt, dass Kinder und Jugendliche über die von vielen nur leistungsbezogen formulierte Forderung nach mehr „Digitalisierung“ des Schulbetriebs hinaus des stetigen, sie wärmenden persönlichen Kontakts bedürfen, der ihnen die Schule und ihr Umfeld bieten kann.

 

*Die gesamten lesenswerten Ergebnisse zu den aus Sicht von Lehrer*innen nachteiligen Folgen der Coronapandemie finden sich im Netz unter:

https://deutsches-schulportal.de/unterricht/umfrage-deutsches-schulbarometer/

Claus Koch

Dr. phil. (Psychologie), Diplompsychologe. Bis Juli 2015 Verlagsleiter für den Bereich Sachbuch und Elternratgeber beim Beltz Verlag in Weinheim. 2015 gründete er zusammen Udo Baer das „Pädagogische Institut Berlin“ (PIB). Jahrelange wissenschaftliche Tätigkeit mit dem Schwerpunkt Entwicklungspsychologie des Kindes und Jugendlichen unter psychoanalytischen und bindungstheoretischen Gesichtspunkten, u.a. mit einem Lehrauftrag an der Universität Bielefeld. Publizist und Autor. Zahlreiche Vorträge, Buchveröffentlichungen und Artikel in Fachzeitschriften. Vorstandsmitglied des „Archiv der Zukunft“ (AdZ).

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