von Dr. Claus Koch
Immer wieder sehen wir erstaunt und fast ehrfürchtig spielenden Kindern zu, egal welchen Alters. Was uns Erwachsene fasziniert sind die Spontaneität und die Selbstvergessenheit des kindlichen Spiels und wie Kinder dabei eine vielen Erwachsenen schon verlorengegangene Lebensfreude ausdrücken. Und dies geschieht sogar oft unabhängig von der Wirklichkeit, in der sie gerade aufwachsen. Wenn sie versuchen, in den Krisengebieten dieser Welt und Flüchtlingslagern ihrem Alltag wenigstens für eine kurze Zeit zu entfliehen. Häufig findet dann von uns Erwachsenen eine Idealisierung kindlichen Spiels statt, und wir vergessen zwischen den uns anrührenden Bildern das Elend, von dem die Kinder sich selbst (aber nicht uns!) ablenken wollen. Und trotzdem: auch diese Kinder spielen!
Im folgenden Beitrag geht es mir um die Klärung der grundsätzlichen Frage, warum Kinder überhaupt spielen. Ist es ihr, wie häufig betont wird, „angeborener Spieltrieb“ oder muss „Spielen“ erst gelernt werden. Was ist spielfördernd und was erstickt die Spiellust von Kindern? Und was ist die, etwas sperrig und eigentlich schon spielfeindlich ausgedrückt, Funktion kindlichen Spielens?
Ich werde in diesem Beitrag den vielen existierenden Spieltheorien keine weitere hinzufügen. Der Hinweis soll reichen, dass sich sämtliche Theorien darüber einig sind, dass das Spielen von herausragender Bedeutung für die Entwicklung von Kindern ist. Alle Kinder, ob Tier- oder Menschenkinder, versuchen zunächst im Spiel, ihre nähere Umgebung zu erforschen und daraus lernen sie, sich in der Welt mit ihren Annehmlichkeiten, Gefahren und Notwendigkeiten gleichsam spielerisch auseinanderzusetzen.
Tierkinder üben durch ihr Spielen Fertigkeiten, die sie zum Überleben brauchen: Sich anschleichen, jagen, einem Fressfeind entkommen, sich gegen Angreifer zur Wehr setzen usw. Für Menschenkinder steht hingegen die phantasievolle Beschäftigung mit sich selbst, das Erreichen des anderen und darüber hinaus auch das Einüben sozialer Fähigkeiten im Vordergrund. Ihr offenbar angeborener „Spieltrieb“ erlischt nur, wenn sie in ihrer frühen Kindheit schweren traumatischen Erfahrungen ausgesetzt waren. Und selbst dann suchen manche Kinder im Spiel, das schlimme Erleben zumindest für eine gewisse Zeit auszublenden, oder der Wirklichkeit, die sie immer noch umgibt, zu entfliehen.
Spielen fördert erwiesenermaßen den Nervenwachstum, aus Sicht der Hirnforschung den Aufbau und die Plastizität der Verbindung unterschiedlicher Hirnregionen, aus Sicht der Stressforschung lässt sich anhand der Ausschüttung des Stresshormons Cortisol in den meisten Fällen eine Stressreduzierung feststellen und gleichzeitig eine vermehrte Ausschüttung des beziehungsfördernden Hormons Oxytocin. Forschungen zum Spielverhalten von Kindern weisen darauf hin, dass sie bis zum Alter von sechs oder sieben Jahren etwa sieben bis acht Stunden am Tag spielen sollten.
Diese genannten positiven Seiten des Spiels wurden und werden sowohl vonseiten der Wissenschaft wie auch im Urteil von Laien immer wieder hervorgehoben, und vielen gelten sie als selbstverständlich. Ich will in diesem Beitrag aber auch einer Verklärung und Idealisierung des kindlichen Spieles entgegentreten, wobei es am Anfang hauptsächlich darum geht, welche bindungstheoretischen Voraussetzungen erfüllt sein sollten, dass Kinder von den erwiesenermaßen positiven Wirkungen des Spiels profitieren können.
Fragt man ein Kind – etwa bis zu seinem sechsten, siebten Lebensjahr – „Warum spielst du?“ sehen die meisten Kinder den erwachsenen Fragesteller mit großen Augen an, so als käme er geradewegs vom Mond. „Ich spiele natürlich, weil ich spielen will“ oder „Ich spiele, weil mir spielen Spaß macht.“ Manches Schul- oder Projektkind aber wird vielleicht noch hinzufügen: „Ich spiele, weil die Erwachsenen sagen, dass ich dabei etwas lerne“ und manche noch älteren Kinder, jetzt bereits Jugendliche, vielleicht abwertend „Spielen ist nur etwas für kleine Kinder“. Oder: „Wenn ich ein Computerspiel spiele, dann, weil es mich aus der Wirklichkeit entführt und ich endlich einmal die oder der sein kann, die oder der ich gerne sein würde.“ Dabei spielen dann häufig Machtphantasien, Dominanzstreben oder die Identifikation mit jemandem, der man sein will, aber in „echt“ nicht sein kann, eine bedeutende Rolle.
Bindung und die soziale Funktion des Spiels
In gewisser Hinsicht spielen Kinder von Geburt an, denn ihr Spiel öffnet ihnen den Zugang zur Welt und zu ihren nächsten Bezugspersonen. Wir können diese Form des Spiels auch als Anfänge eines „dialogischen Spiels“ bezeichnen. Es schafft gewissermaßen die Voraussetzungen zu allen weiteren Spielarten.
Alles beginnt schon kurz nach der Geburt mit dem Blick und der versteckten Frage des Kindes, ob sein Blick, wie es hofft, von denen, die es ansieht, auch erwidert wird. Denn so entsteht Resonanz. „Ich werde gesehen, also bin ich“ denkt der Säugling und das Kleinkind. Und „Ich bin wichtig, ich bin es wert, denn ich erhalte vom anderen eine Antwort.“ Das Kind drückt mit seinem Blick also das, wie ich es nenne, existenzielle Bedürfnis aus, gesehen zu werden. Entwicklungspsychologen und Bindungsforscher sprechen auch von einem „Tanz der Blicke“, in dem sich das Kind verliert und dennoch völlig bei sich ist. Bei sich ist, weil es die andere oder den anderen mit seinem Blick erreicht. Dies geschieht aber nur dann, wenn derjenige, der diesen Blick empfängt, ihn auch erwidert.
Dasselbe geschieht im sogenannten „Lächeldialog“ und später, mit etwa 18 Monaten, mit den ersten Worten, die das Kind an seine ihm nächsten Bezugspersonen richtet und hofft, eine freundlich zugewandte Antwort zu bekommen. Auch die Zeigefunktion, wie wir sie bei allen Kindern im Alltag beobachten können, spielt eine wichtige Rolle. Das Kind zeigt auf etwas und will uns damit etwas sagen: „Schau her, das interessiert mich, das ist mir gerade wichtig.“ Auch in diesem Fall freut es sich, wenn wir uns mit ihm über den gezeigten Gegenstand oder die gezeigte Szene verbinden, indem wir seinem Hinweis folgen und ihm antworten.
Diesem wechselseitigen Austausch mit einem Gegenüber schreiben Psychologen auch die Fähigkeit zur „Mentalisierung“ zu. Mentalisierung heißt verkürzt, sich selber mit den Augen des Gegenübers wahrnehmen und den anderen mit den eigenen Augen. Mentalisieren bedeutet Empathie für den anderen empfinden zu lernen, weil man sich in sein Gegenüber, seine Stimmung und seine Absichten hineinversetzen kann. Dies kann aber nur gelingen, wenn ich schon als Kleinkind auf meine Blicke, Gesten und Worte Resonanz erfahren habe. Anders formuliert: Im dialogischen Spiel, das mich mit einem anderen verbindet, treffe ich zunächst mit meiner inneren Realität auf die äußere Realität meines Gegenübers. Aus der Art, wie er auf mich antwortet, kann ich seine innere Realität deuten, ob er glücklich ist oder traurig, ängstlich oder mutig und mir darüber eine eigene „Theorie“ bilden.
Bleibt nun eine entsprechende Reaktion auf die anfängliche Spielidee des Kindes aus, also spielerisch Kontakt zum anderen aufzunehmen, um von ihm eine Antwort zu bekommen, greifen Gesten und Worte buchstäblich ins Leere, dann bleibt Gefühl von Verlassensein, das Gefühl, nicht gesehen, nicht gehört zu werden, beim Kind zurück. In dieser Leere verliert sich das Kind wie in einer Landschaft, in der immer alles gleich ist.
Das Spiel des Säuglings und Kleinkindes ist also zunächst intentional auf einen anderen gerichtet. Und in den „Pausen“, wenn es seine Hände, Füße, sein Geschlecht, seinen ganzen Körper spielerisch erforscht, wird sich das Kind selbst zum „anderen“.
Warum also spielt das Kind? Es spielt, um mit spielerischen Mitteln sich selbst und die Welt, die es umgibt, zu erreichen und zu erkunden. Dabei sucht es für sich auch nach persönlicher Anerkennung. Nicht dafür, etwas geleistet zu haben, sondern für sich als einzigartiger kleiner Mensch: „So, wie ich bin, bin ich gut. So wie ich bin, werde ich angenommen.“ Gleichzeitig macht das Kind die Erfahrung von Wirksamkeit: Werden seine spielerischen Gesten erwidert, erlebt es, dass es das, was es mit seinen Blicken, seinem Lächeln, seinen ersten Worten anstrebt, auch bekommen kann.
Greift das Kind dabei jedoch ins Leere, bleibt sein Beziehungswunsch, wie er sich im Spiel ausdrückt, unerwidert, erlischt auch die Spielidee des Kindes. Nahezu alle psychischen Auffälligkeiten eines Kindes, manche sprechen auch von „Störungen“, finden hier ihren Ausgangspunkt. Dann wird das Spiel abgelöst von stereotypen Bewegungen, im schlimmsten Fall stößt das traumatisierte Kind seinen Kopf immer wieder an die Wand, um sich wenigstens auf diese Weise zu spüren. Oder es läuft später immer Hin und Her, worin sich seine Orientierungslosigkeit ausdrückt, etwa in der Schule, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, an der es ihm als Kleinkind gemangelt hat. Auch das Selbstverletzen von Jugendlichen hat hier ihren Ausgangspunkt. Die innere Leere durch die Empfindung des eigenen Schmerzes vergessen und auszublenden. Oder auch unterschiedliche Suchterfahrungen.
Ich habe diesen Beitrag mit bindungstheoretischen Überlegungen begonnen, um zu zeigen, dass das „menschenkindliche“ Spiel kein Selbstläufer ist. Alle Kinder spielen, das ist schon richtig, aber zu Beginn seines Lebens braucht es immer auch den spielerischen Dialog mit denen, die ihm am wichtigsten sind. Immer bedarf es, nicht nur in den ersten drei Lebensjahren, eines Gegenübers, um sich in ihm, gerade auch im Spiel wiederzufinden. Sonst verliert sich das Spiel im Gefängnis des eigenen Selbst.
Ein schönes Beispiel ist übrigens das Fangen oder das Versteckspiel, das Kinder über alle Kontinente so lieben. Da wir alle einmal Kinder waren, wissen wir auch selbst um seinen Reiz. Worin liegt dieser? Was zunächst wie ein Widerspruch klingt, bringt ihn hervor: Er liegt nämlich im Gefundenwerden! Natürlich freut man sich, nicht als erste oder als zweiter entdeckt zu werden. Aber wenn alle Kinder gefunden wurden und nur noch eines übrigbleibt, dann fangen die meisten Kinder von sich aus an, leise Geräusche zu machen. Denn eigentlich wollen sie gefunden werden. Nichts kann schlimmer für das betroffene Kind sein, als nicht gefunden zu werden, das Gefühl, vergessen worden zu sein, wenn die anderen Kinder ihr Spiel fortsetzen und man immer noch hinter dem Baum steht. Denn dann bleibt man für die anderen ja unsichtbar, wird buchstäblich „übersehen“. Also meldet sich das Kind entsprechend. Mit dem Fangen ist es genauso. Immer nur wegzulaufen und nie gefangen zu werden mag für das ältere Schulkind ein Zeichen sein, schneller zu sein als die anderen, womit wir aber schon beim Leistungsgedanken sind, der vor allem ab dem Schulalter häufig die ursprüngliche Spielidee begleitet. Aber das kleine Kind, das nie gefangen wird hat auch in diesem Fall die Sorge, nicht erreicht und entsprechend nicht beachtet zu werden. Auch hier liegt der Reiz des Spieles in der sozialen Begegnung mit anderen. Kinder, die „gefangen werden“ sind in den meisten Fällen darüber gar nicht so enttäuscht, sondern oft kreischen sie vor Vergnügen oder umarmen sogar den „Fänger“. Wird ein Kind gar nicht gefangen, wird ihm das Spiel langweilig, im schlimmsten Fall stellt sich bei ihm die Angst, nicht erreicht worden zu sein.
Nun gibt es neben der sozialen Funktion des Spieles noch mehrere andere und auf eine möchte ich noch ausführlicher eingehen.
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Dieser Beitrag wird im nächsten Blog fortgesetzt. Hier geht Claus Koch auf das Phantasiespiel ein und die Spielkiller Zwang und Leistung.
Das ‚wilde Spiel‘, wenn Kinder sehr körperlich im Spiel werden, raufen, sich niederstoßen, die Grenze des anderen überschreiten und es sogar zu kleineren Verletzungen kommt, die Tränen zur Folge haben, oder Machtspiele erkennbar werden, Hierarchien erkennbar werden, Rollen selten getauscht werden. Oder das Nachspielen der Filme Ninjago … Wie damit umgehen?