SERIE Spürende Begegnungen mit Kindern und Jugendlichen (4): Das Drücken oder Erdrückt-Werden / das Lehnen

Das Drücken

Drücken beinhaltet wie jede Leibbewegung eine motorische Ebene und eine Ebene des Erlebens. Motorisch kann man etwas mit unterschiedlicher Intensität drücken, zart, weich wie eine sanfte Berührung, aber auch fest und kraftvoll. Die Richtung des Drückens kann nach innen, gegen den eigenen Körper, oder kann nach außen gehen. Man kann etwas an sich herandrücken und etwas wegdrücken. Das Gegenteil des Wegdrückens ist das Ziehen. Das schnelle Wegdrücken wird zum Stoßen.

Wie bedeutend Drücken als grundlegende Bewegung des Erlebens ist, wird oft in der Begegnung mit Erwachsenen oder Jugendlichen deutlich. Wenn wir fragen: „Wie geht es Ihnen?“, antworten viele Menschen, dass sie sich unter Druck fühlen oder dass sie darunter leiden, dass andere Menschen Druck auf sie ausüben. Manche haben Angst, Forderungen an andere Menschen zu stellen, weil sie „keinen Druck ausüben wollen“. Wieder andere stehen unter „Hochdruck“, ohne dass der Druck nach außen dringt und gegen andere gerichtet werden kann. Drücken wird von vielen als Wegdrücken erlebt. Druck wird oft mit Gewalt gleichgesetzt.

Wenn ein Säugling gehalten wird, drückt die Mutter oder eine andere Bezugsperson den Säugling an sich. Drücken und Gehaltenwerden gehören folglich zusammen. Viele Menschen suchen Halt und Gehaltenwerden im Sinne von Geborgenheit und Sicherheit, andere erleben Gehaltenwerden als Beengung und Gewalt. Wie bei allen Leibbewegungen ist das Erleben auch des Drückens individuell, unterliegt unterschiedlichen Wahrnehmungen, Erlebnisweisen und Bewertungen.

Oft beobachten wir Kinder „unter Druck“. Dies ist die Atmosphäre, die sie ausstrahlen, und das zeigt sich oft auch in der Körperspannung. Hier hat sich aus dem Prozess des Drückens der Zustand des Drucks verfestigt, ist in ihnen gleichsam kristallisiert. Durch Übungen und Erfahrungen des Drückens und Ziehens kann aus einem erstarrten Zustand wieder ein Prozess werden.

Hintergrund sind oft Erfahrungen, das Kinder „erdrückt“ wurden. Durch massive Forderungen oder Doppelbotschaften, durch die Wirkung seelischer Erkrankungen auf die Kinder, durch Trennungskriege, durch Gewalt, durch Flucht und Fluchttraumata, durch vieles andere mehr. Solcher Druck hat oft keine Worte. Doch er ist spürbar und wahrnehmbar.

Lehnen 

In der Intensität, mit der Säuglinge sich normalerweise anlehnen können, wie sie alle Muskelgruppen entspannen und lösen und sich z. B. in den Arm der Mutter schmiegen, können dies Erwachsene später kaum noch. Das Lehnen ist die früheste Form des Körperkontaktes, intim und innig. Vielen Erwachsenen ist diese primäre Leibbewegung verloren gegangen, vielen ist sie fremd und gleichzeitig sehnen sie sich danach.

Was viele Menschen eher als das Lehnen kennen, ist das Abgelehnt-Werden. Wer früh und andauernd abgelehnt wurde, kommt vielleicht zu der Überzeugung, nicht nur etwas falsch zu machen, sondern falsch zu sein. Wer sich an einem vertrauten Menschen anlehnen wollte und dabei ins Leere fiel, wird misstrauisch werden und sich vielleicht nie mehr trauen, sich an andere Menschen anzulehnen.

Kinder suchen, sich anzulehnen. Wer sich nicht anlehnen kann, wie soll er Halt finden, wie soll er lernen zu vertrauen? Die Sehnsucht, sich anlehnen zu können, ist bei Kindern groß.

Udo Baer

Dr. phil. (Gesundheitswissenschaften), Diplom-Pädagoge, Kreativer Leibtherapeut AKL, Mitbegründer und Wissenschaftlicher Berater der Zukunftswerkstatt therapie kreativ, Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für soziale Innovationen (ISI) sowie des Instituts für Gerontopsychiatrie (IGP), Vorsitzender der Stiftung Würde, Mitinhaber des Pädagogischen Instituts Berlin (PIB), Autor

Schreiben Sie einen Kommentar