Kinder, die reden, weinen nicht

 

 

 

von Claus Koch

Alle Kinder, es mögen etwa zehn 7- oder 8-Jährige sein, stehen im Kreis. Nun geht eines von ihnen in die Mitte und fängt an zu sprechen. Was er oder sie in der letzten Woche Besonderes erlebt hat. Ben erzählt, dass sein Wellensittich gestorben ist, noch immer sei er sehr traurig. Mira hat auf dem Schulweg einem Obdachlosen etwas von ihrem Pausengeld in den Kaffeebecher geworfen, der vor ihm stand. Er habe ihr, gerade jetzt in der Weihnachtszeit, wo sich doch alle so sehr auf ihre Geschenke freuen, leidgetan, wie er da in der Kälte saß mit seinem Pappschild in der Hand: DANKE! Mohammed fasst sich kurz: Sein Opa sei krank und jetzt hoffe er, dass er kein Corona habe und bald wieder gesund ist. Schnell geht die Schulstunde vorüber. Eine Woche später werden sich andere Kinder in den Kreis stellen und von sich erzählen: Von etwas, das ihnen gutgetan hat, von etwas das sie bekümmerte oder vor dem sie gerade Angst haben. Vor Corona haben die meisten Kinder Angst. Sich und andere anzustecken, ausgegrenzt zu werden, wenn der Test positiv ist und sie nicht in die Schule dürfen. Manche aus ihrer Klasse kommen gar nicht mehr zur Schule, das finden andere Kinder gemein, weil ihre Mütter arbeiten müssen und gar nicht zuhause sein können, wie die Kinder anderer Eltern. Aber eigentlich wollen alle Kinder, dass die Schule offenbleibt. Weil sie dort ihre Freundinnen und Freunde sehen, dort zusammen spielen können und ja, einmal in der Woche einen Kreis bilden, in dem jedes Kind von sich und seinen Erlebnissen erzählen darf.

Gerade in der Corona-Zeit ist diese Übung ein gutes Mittel, weil es Kindern ermöglicht, über sich und ihre Empfindungen, ihre Sorgen, aber auch über die glücklichen Momente, die sie erlebt haben, zu sprechen. Viele Kinder melden sich spontan, in den Kreis treten zu dürfen, um von sich zu erzählen. Manche Kinder melden sich nicht. Vielleicht sind sie einfach zu schüchtern. Andere kennen es gar nicht, von sich aus ihrer Perspektive sprechen zu dürfen. Dann kann die Lehrerin oder der Lehrer vorschlagen, mit ihnen zusammen in den Kreis zu treten. Zuerst erzählt er oder sie von sich selbst, um dem betreffenden Kind seine Scheu zu nehmen: „Als ich heute Morgen aus dem Haus ging, habe ich mich gefreut, euch alle kurz vor den Weihnachtsferien noch einmal zu sehen. Auch dich, Ayse, werde ich vermissen. Willst du auch etwas von dir erzählen?“ Und dann erzählt Ayse von ihrer Mutter, die immer so müde ist, wenn sie spät nach Hause kommt, und sie eigentlich etwas mit ihr zusammen etwas machen will. Zum Beispiel Plätzchen backen, wie es andere Kinder vor ihr im Kreis berichtet haben. Und ein Kind meldet sich und schlägt vor, sie nach der Schule einmal mit sich nachhause mitzunehmen, um dort gemeinsam Plätzchen zu backen.

Manche Kinder erzählen gar nichts. Oft sind es Kinder, die die Lehrerin oder den Lehrer auch im Unterricht vor große Herausforderungen stellen. Weil sie einfach nicht aus sich herauskommen, weil in ihrem Innern zu viel los ist. Oder zu viel Angst und Leere, die sie nicht in Worte fassen können. Anerkannt zu werden und auf ihre Fragen eine Antwort zu bekommen, haben sie zu wenig erfahren. Statt Resonanz nur Schweigen um sie herum oder zu viel Lärm, durch den sie nicht durchdringen mit dem, was in ihnen vorgeht. Um sie muss man sich besonders kümmern. Auch für sie bedeutet der Kreis, wenn sie sich schließlich trauen, in die Mitte zu gehen, ein Stück wieder gefundene Wirksamkeit. Kinder die sprechen, müssen nicht weinen.

Claus Koch

Dr. phil. (Psychologie), Diplompsychologe. Bis Juli 2015 Verlagsleiter für den Bereich Sachbuch und Elternratgeber beim Beltz Verlag in Weinheim. 2015 gründete er zusammen Udo Baer das „Pädagogische Institut Berlin“ (PIB). Jahrelange wissenschaftliche Tätigkeit mit dem Schwerpunkt Entwicklungspsychologie des Kindes und Jugendlichen unter psychoanalytischen und bindungstheoretischen Gesichtspunkten, u.a. mit einem Lehrauftrag an der Universität Bielefeld. Publizist und Autor. Zahlreiche Vorträge, Buchveröffentlichungen und Artikel in Fachzeitschriften. Vorstandsmitglied des „Archiv der Zukunft“ (AdZ).

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