SERIE Spürende Begegnungen mit Kindern und Jugendlichen (3): Das Greifen und Be-greifen, das Ergriffen-Werden

Greifen

Greifen ist auch Begreifen. Kinder begreifen die Welt. Kinder greifen nach der Mutter oder dem Vater, sie greifen nach Spielzeug, nach der Flasche, nach der Brust, nach allem, was sie interessiert. Ist das, wonach sie greifen wollen, nicht da, greifen sie ins Leere, machen Erfahrungen mit dem Nichts. Geschieht dies häufig, hören sie auf zu greifen. Sie halten ihre Greifimpulse zurück, etwa indem sie ihre Schultern chronisch anspannen, und können dann manchmal auch als Erwachsene die Arme gar nicht mehr bewusst heben oder ausstrecken. Sie empfinden ihre Hände als zu unlebendig, gelähmt oder schlaff, um mit ihnen nach etwas zu greifen.

Greifen ist folglich mehr als eine motorische Funktion. Greifen ist eine Leibbewegung. Der Säugling nimmt Kontakt mit dem Umfeld über den Blick, über Geräusche, über den Rhythmus, über Hautberührung auf, doch ist er dabei noch von anderen Menschen, von ihrem Kommen und Gehen abhängig. Er selbst ist an den Ort gefesselt und auf Zuwendung angewiesen. In der Krabbelphase beginnt sich dies zu ändern. Der Säugling kann sich in die Welt hinausbewegen. Mag seine Welt anfangs noch so klein sein, beginnt doch eine neue Qualität des Kontaktes: die Qualität des Greifens und Begreifens. Etwas sehen, Interesse haben, greifen wollen, dorthin krabbeln, zugreifen – das ist ein durchgehend fließender Prozess, in dem die Kinder etwas über ihre Umwelt lernen, Objekt für Objekt, Griff für Griff.

Über das Greifen begreift er die Welt im doppelten Sinne: der Säugling begreift die Qualitäten der Gegenstände, und er begreift gleichzeitig seine eigenen Fähigkeiten des Kontaktes. Er lernt Wirksamkeit.

Manche Kinder kennen das Greifen überwiegend daher, dass sie von anderen ange-griffen, dass sie gewaltsam ergriffen werden. Gewalterfahrungen mit Prügel oder sexuellen Übergriffen (wieder das Wort Greifen, auch in diesem schlimmen Wort) bestimmen ihr Greiferfahrungen. Manche führen diese Art des Greifens fort, andere „verzichten“ ganz auf das Greifens, weil sie nie so werden wollen wie die Täter/innen. Auch letzteres gibt den Tätern Macht, kann Kinder und Erwachsene in Opferrollen festlegen und festigen.

Greifen Kinder und Erwachsene ins Leere oder werden sie gewaltsam ergriffen, hat das nachhaltige Folgen. Sie hören auf, zu be-greifen, oder werden selbst aggressiv, greifen an.

Udo Baer

Dr. phil. (Gesundheitswissenschaften), Diplom-Pädagoge, Kreativer Leibtherapeut AKL, Mitbegründer und Wissenschaftlicher Berater der Zukunftswerkstatt therapie kreativ, Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für soziale Innovationen (ISI) sowie des Instituts für Gerontopsychiatrie (IGP), Vorsitzender der Stiftung Würde, Mitinhaber des Pädagogischen Instituts Berlin (PIB), Autor

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