Die WLAN-Puppe im Kinderzimmer? Bindungstheoretische Überlegungen zu interaktivem Spielzeug (Teil 2 von 2)

Eines ihrer schönsten Spiele besteht für Kinder schon ab zwölf Monaten, spätestens ab zwei Jahren und aufwärts darin, sich mit ihrer Puppe, ihrem Bären oder einem anderen Plüschtier zu unterhalten. In diesem Dialog kommt alles zum Tragen, was sie bisher – u. a. auch aus der Bindungssituation zu ihren Eltern – gelernt und erfahren haben. Da wird geliebt, ermahnt, gefüttert, umarmt, gedroht und geknuddelt, d.h. der ganze Kosmos eines Kinderlebens wird zur Geltung gebracht und kann dialogisch buchstäblich zur Sprache gebracht werden. Wobei das Kind aber nicht nur seinen, sondern auch den Part seines Gegenübers einnimmt! Es taucht gemeinsam mit der Puppe oder dem Kuscheltier ein in eine Resonanzbeziehung, wie es sie auch schon aus seinem Verhältnis zu seinen wichtigsten Bezugspersonen her kennt. Dabei wendet es sich nicht nur von sich aus an die Puppe, sondern übernimmt zeitgleich deren Perspektive und ihr Antwortverhalten. Es geht dabei um die Einübung eines auf Gegenseitigkeit beruhendem Dialogs, zu dem auch gehört, sich in den anderen, in diesem Fall die Puppe, den Bär oder das Stofftier, einzufühlen und auch darum, seine Antwort vorauszuahnen, alles Fähigkeiten, die später im Leben eines besonders wichtige Rolle spielen. Solcher Dialog, bei dem das Kind sowohl die Rolle des Kindes wie auch der Puppe übernimmt, könnte so aussehen:

Kind: Oh, draußen regnet es. Wir können gar nicht raus. Wollen wir drinnen bleiben?
Puppe: Ich würde lieber raus. Die Sonne soll scheinen.
Kind: Du musst aber drinnen bleiben, sonst wirst du krank.
Puppe: Ich will aber nicht krank werden.
Kind: Hast du Hunger?
Puppe: Ich will raus.
Kind: Du musst nicht weinen. Komm wir spielen hier drin was.
Puppe: O ja.
Kind: Dann wirst du auch nicht krank. Und brauchst keine Medizin.
Puppe: Dann werde ich gesund.
Kind: Du bist doch noch gar nicht krank!

In diesem Dialog, wie er so und anders täglich hundertfach in jeder Kita geführt wird, lernt das Kind, sich in den anderen, den es ja auch spielt, und zwar nicht ausschließlich aus seinen Intentionen heraus, hineinzuversetzen, aber auch, sich in seinem Antwortverhalten selbst kennenzulernen, wie es wohl auf die Reaktionen eines anderen reagieren würde. Ein Kommunikationszirkel, der sich ständig öffnet und wieder schließt. Das Kind hört seine eigene Stimme, nimmt seine Tonlage – ob schmeichelnd oder drohend – wahr, spürt seine eigene Stimmung dabei, ob gut oder schlecht gelaunt, sucht nach Lösungen und erobert neue Räume in seiner Phantasie. So entsteht eine echte Resonanzbeziehung und das Kind kann – mit Unterbrechungen – Stunden, Tage und Wochen in solchem Dialog mit „seinem“ Kind, sei es eine Puppe oder manchmal auch nur ein Gegenstand verbringen. Es übt sich in Rollenspielen, und zumeist ist es selbst der oder die Mächtigere, also Vater oder Mutter …

In anderen Fällen – meistens zu Hause – übernehmen auch die elterlichen Bezugspersonen den Part des Anderen, spielen also die Rolle des Bären, der Puppe oder auch eines Gegenstands. Oft geht es dann darum, das Kind zum Lachen zu bringen, die Puppe „macht Quatsch“, was für beide Seiten sehr unterhaltsam ist, aber manchmal auch um die ernsten Dinge des Lebens, um Glück und Trauer, Enttäuschung, Ängste und Wut. Hauptsache, es geht am Ende gut aus. Es geht darum, dem Kind etwas von der Welt zu erzählen, ohne damit ein pädagogisches Ziel zu verfolgen. Dabei entsteht wie von selbst eine gute Bindung. Die jeweilige Bezugsperson formt sich im Dialog mit einer anderen, woraus ein Vertrauen in die Welt und den anderen resultiert.

Spielt das Kind mit der WLAN-Puppe oder einem auf Antwort programmierten anderen Lebewesen oder Gegenstand, finden alle diese Prozesse nicht statt und meistens wird es von sich aus das Spiel nach kurzer Zeit beenden, da es das Unnatürliche an diesem dialogischen Prozess ebenso durchschaut wie dass es mit seinen intentionalen Absichten nicht zum Zuge kommt. Stattdessen wird es versuchen, sich wieder eine „echte“ Bezugsperson zu suchen.

Kommt es aber zu solcherart „Dialog“ mit einem „sprechenden“ Dinosaurier oder der WLAN-Puppe, funktioniert er darüber, dass der „Gesprächspartner“ die Stimme des Kindes aufzeichnet und die Daten zur Spracherkennung an einen Server im Netz sendet (auf dem sie unter Umständen bleiben und bei Gelegenheit, etwa zu Werbezwecken, wieder zu neuem Leben erweckt werden). Auf diese Weise lassen sich die Aussagen der Kinder protokollieren, analysieren und „passende“ – meistens sehr allgemein gehaltene – Antworten generieren. Insofern geht dieser „Dialog“ auch nicht über das vom Kind bereits Gesprochene und Gedachte hinaus und kann schon gar keine überraschende Wendung nehmen, sondern bietet ihm in Form einer Endlosschleife Versatzstücke eines vom Computer errechneten Antwortverhaltes. Wobei das Kind die diesen Prozess begleitende Manipulation seiner eigenen Aussagen nicht sieht (und schon gar nicht verstehen kann), die darin besteht, dass sein Gegenüber ihm keine neuen Gesichtspunkte, die in der Kommunikation bislang gar nicht auftauchten, geltend machen kann oder wenn überhaupt, nur sehr primitive. Mit Einfühlung in das Gegenüber, sich vom anderen feinfühlig angenommen zu spüren, der eigene Stimmung in der Reaktion eines anderen nachzugehen, hat das alles nichts zu tun. Das Verhältnis ist kein resonantes, sondern künstlich, auf streng aufeinanderfolgende Statements verkürzt. Nebenbei entsteht beim Spiel mit der WLAN-Puppe zusätzlich der Eindruck, dass man den anderen, in diesem Fall die Puppe, immer entlang der eigenen Intentionen manipulieren kann, dass sie so reagiert, wie ich es ihr vorher-sage und ich mich in ihre Gesprächsabsichten nicht einfühlen muss. Die Puppe kann sich schließlich nicht dagegen wehren, so, wie im echten Spiel, bei dem ja auch das Kind die Rolle der Puppe übernimmt und protestiert, wenn ihm an ihrer Stelle etwas nicht gefällt.

Gute Bindung verbunden mit dem Aufbau von Selbstwertgefühl und Selbstwirksamkeit, geübt und immer wieder von Neuem erprobt im resonanten Austausch mit den engsten Bezugspersonen ist ein wirksamer Schutz gegen solcherart im einseitigen Dialog eingeübten Machtanspruch an den anderen, der in der weiteren Entwicklung des Kindes meisten in eigenen Ohnmachtsgefühlen endet. Gute Bindung, die auf Resonanz und Gleichwürdigkeit beruht, ist umgekehrt auch Voraussetzung dafür, sich den Machtansprüchen eines anderen nicht auszuliefern – übrigens bis in die Zeit des Erwachsenwerdens hinein, wie ich in meinem neuesten Buch zum Erwachsenwerden unserer Kinder aufzeige.[1] Wir sollten unsere Kinder und ihren Umgang mit den digitalen Medien nicht verteufeln, aber müssen besonders die Allerkleinsten vor Applikationen schützen, die sie in eine Scheinwelt entführen, in der sie von einfachen Algorithmen buchstäblich hinters Licht geführt werden.

[1] Claus Koch. Pubertät war erst der Vorwaschgag. Wie junge Menschen erwachsen werden und ihren Platz im Leben finden. Gütersloher Verlagshaus 2016

Claus Koch

Dr. phil. (Psychologie), Diplompsychologe. Bis Juli 2015 Verlagsleiter für den Bereich Sachbuch und Elternratgeber beim Beltz Verlag in Weinheim. 2015 gründete er zusammen Udo Baer das „Pädagogische Institut Berlin“ (PIB). Jahrelange wissenschaftliche Tätigkeit mit dem Schwerpunkt Entwicklungspsychologie des Kindes und Jugendlichen unter psychoanalytischen und bindungstheoretischen Gesichtspunkten, u.a. mit einem Lehrauftrag an der Universität Bielefeld. Publizist und Autor. Zahlreiche Vorträge, Buchveröffentlichungen und Artikel in Fachzeitschriften. Vorstandsmitglied des „Archiv der Zukunft“ (AdZ).

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