Der „Digitalpakt“: Algorithmen statt Bindung, Beziehung und Weltoffenheit

Beitrag von  Dr. Claus Koch

 

 

Seit Wochen und Monaten fällt Politikern und „Bildungsexperten“, wenn sie über die Schule und deren Aufgaben sprechen, kaum noch etwas anderes ein als das Zauberwort vom „Digitalpakt“. Für ihn sollen Schulen jetzt Milliarden zur Verfügung gestellt bekommen, um Schülerinnen und Schüler „fit“ für die Zukunft zu machen. Dafür dürfen sie an ihren Schulen WLAN nutzen, bekommen ein Tablet in die Hand, Lehrer „interaktive“ Whiteboards und eine entsprechende „Lernsoftware“. Die würde, wie in Werbefilmchen für den „Digitalpakt“ zu sehen, den Schülern zeitgemäß ihren Stoff vermitteln und ihnen Erfolg oder Misserfolg beim Lernen zurückmelden. Der „Digitalpakt“ als „Stairway to heaven“, als digitale Himmelsleiter, mit dem sich alle Lern- und Wissensprobleme in nächster Zukunft lösen ließen.

Eine solche Art von „programmiertem Unterricht“ wurde mit ähnlichem Enthusiasmus schon einmal in den 1970er Jahren gestartet, als man Schülern mithilfe behavioristischer Programme, ein wenig wie Ratten, für das erfolgreiche Lösen von Aufgaben belohnte und bei Fehlern entsprechend „bestrafte“. Oder sie in „Sprachlaboren“ in kleine Kabinen setzte, ihnen Kopfhörer verpasste und, bewacht und kontrolliert von einer Lehrerin oder einem Lehrer, Sprachen lernen ließ – ein gewaltiger Fehlschlag, wie man im Nachhinein feststellen musste. Was Schüler in Boxen wie in Kaninchenställen lernten entsprach in etwa dem Ergebnis, sich sechs Wochen in den Sommerferien im Rahmen eines Schüleraustauschs in einer anderen Sprache verständlich machen zu müssen, egal ob beim Musikmachen, beim Sport oder – mit dem nachhaltigsten Lernerfolg – beim Verlieben.

Dass Bindung und Beziehung zu anderen Menschen die stärkste Motivation zum Lernen und Kennenlernen der Welt darstellen wissen wir mittlerweile aus den Neurowissenschaften, aber ebenso aus der Säuglingsforschung und Bindungstheorie bis hin zu den „Metaanalysen“ eines John Hattie, der mithilfe einer gewaltigen Stichprobe und „Metaanalyse“ auf klassisch empirische Weise den „Lehrer“ als die stärkste für den Lernerfolg verantwortliche „Variable“ ermittelte. Wir wissen es aber auch, und vielfach besser, von uns selbst: Es war der eine Lehrer oder die eine Lehrerin, oder wenn wir Glück hatten, noch ein paar andere, die uns über ihre als authentisch empfundene Beziehung zu begeisterten, aufmerksamen und fleißigen Lernern und Entdeckern machten. Nicht weil sie uns programmieren wollten, zwischen „Richtig“ und „Falsch“ zu unterscheiden, oder uns wie Dealer ihren „Stoff“ verabreichten, sondern weil sie den Kontakt, die Begegnung, Beziehung, Resonanz und das Gespräch mit uns suchten, dabei oft feinfühlig unsere Interessen erratend und vor allem, weil sie uns das Gefühl gaben, so, wie wir waren, willkommen zu sein. Solche Anerkennung führte zum Glauben an unsere Selbstwirksamkeit, zu einem guten Selbstgefühl und zu weiteren Resonanzerfahrungen.

Wenn Menschen auf solche Weise in einem gegenseitigen Austausch stehen, sprechen wir von Bindung und Beziehung – Maschinen sind sie fremd. Sogenannte „Leuchtturmschulen“, also Schulen, die versuchen, diesem „Spirit“ zu folgen, zeichnen sich alle dadurch aus, dass sie Kinder und Jugendliche mit deren eigenen unterschiedlichen Bedürfnissen und dies auch von ihrer Organisation her in den Vordergrund stellen. Sie verzichten weitgehend auf Noten, praktizieren in jahrgangsübergreifenden Klassen einen auf die Entwicklung des einzelnen Schülers abgestimmten Unterricht, besprechen in Teams deren Stärken und Schwächen und, wenn es besonders gut läuft, auch ihre eigenen! Und es sind genau diese Schulen, die in Evaluationsstudien zum Lernerfolg immer wieder am besten abschneiden! Aber statt hier anzusetzen und, wie es der Bildungsjournalist Reinhard Kahl etwas pathetisch formuliert, Schulen zu „Kathedralen“ zu machen und sie aus ihrem Dasein als „Lernanstalten“ zu befreien, weil sie einen so immensen Einfluss auf unser späteres Leben haben, jetzt also der „Digitalpakt“.

Wobei es ja kaum darum gehen kann, mit ihm Schülern die Feinheiten von Hard- und Software näher zu bringen – hier ist so ziemlich jeder Fünftklässler seinem Lehrer oder seiner Lehrerin überlegen. Stattdessen werden die angewandten Algorithmen einer möglichst reibungslosen Wissensvermittlung dienen, die dann kaum noch hinterfragt werden kann, wenn der Adressat nur noch auf sein Display blickt und nicht mehr in die Augen eines Gegenübers oder auf eine Welt, die mehr ist als ein in vielen Farben schillerndes Rechteck von Richtig und Falsch. Gute Pädagoginnen und Pädagogen hingegen wussten schon immer um die Bedeutung von Begegnung beim Lernen. Ihr skeptischer Blick auf den „Digitalpakt“ zeugt weniger von in die Jahre gekommener Feindschaft digitalen Medien gegenüber als von ihrer alltäglichen Erfahrung, worauf es bei einem Lernen, das nicht nach der nächsten Klassenarbeit in Vergessenheit gerät, wirklich ankommt.

Wenn überhaupt ein „Digitalpakt“ mit Schulen, müsste es doch darum gehen, mit den Schüler/innen zu diskutieren, wie sie die digitalen Werkzeuge, mit denen sie sich schließlich bestens auskennen, produktiv für sich nutzen könnten. Wie wäre es also, wenn sie das Auswendiglernen ab jetzt den Maschinen überlassen und dadurch Raum für eigene Ideen gewinnen? Wenn sie stattdessen ihre Neugierde stärken, die Hinwendung zu den Dingen selbst und ihre Kreativität. Mit anderen zusammen, auch jenen, die von außerhalb in die Schule kommen, Handwerkern, Künstlern, Mathematikern und Physikern den Blick frei bekommen für das Wesentliche. Ihren Blick übers Faktische hinaus, das zu vermitteln die wenigsten Umstände erfordert, auf die Welt richten, wie sie vielleicht einmal sein könnte. Und nachdenken darüber, was das Netz mit uns als digitalem Endverbraucher macht, wenn es unsere Aufmerksamkeit absaugt und vor allem, sie kommerziell verwertet. Was an den Netzwerken ist eigentlich „sozial“, wenn sie nur zur Selbstoptimierung dienen, wenn sie durch den Einsatz von Filtern Selfies das eigene, als echt und mir zugehörig empfundene Körperbild zerstören, was erwiesenermaßen schon Kinder krank machen kann? Oder wenn Interessen geweckt und vermarktet werden, um einen digital millionenfach geteilten Mainstream zu entsprechen? Was ist „sozial“ daran, Daten über uns zu horten und sie an die Werbewirtschaft zu verkaufen, die uns dann für auf uns und unsere Interessen abgestimmte Produkte begeistern will? Darüber nachzudenken wäre auch und besonders die Schule ein geeigneter Ort für Reflexion und Diskussion. Weltoffenheit zu erzeugen, indem man die digitalen Medien nutzt, den eigenen Blick zu erweitern statt sich von ihnen vorschreiben zu lassen, was richtig und was gut ist, bzw. das eigene Lernen und Denken in ein vielfältiges Muster von Beziehungen zu stellen, es zusammen mit anderen knüpfen und erweitern statt einer von Außen auferlegten Abfolge von Logarithmen blind folgen zu müssen.

Claus Koch

Dr. phil. (Psychologie), Diplompsychologe. Bis Juli 2015 Verlagsleiter für den Bereich Sachbuch und Elternratgeber beim Beltz Verlag in Weinheim. 2015 gründete er zusammen Udo Baer das „Pädagogische Institut Berlin“ (PIB). Jahrelange wissenschaftliche Tätigkeit mit dem Schwerpunkt Entwicklungspsychologie des Kindes und Jugendlichen unter psychoanalytischen und bindungstheoretischen Gesichtspunkten, u.a. mit einem Lehrauftrag an der Universität Bielefeld. Publizist und Autor. Zahlreiche Vorträge, Buchveröffentlichungen und Artikel in Fachzeitschriften. Vorstandsmitglied des „Archiv der Zukunft“ (AdZ).

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