SERIE Spürende Begegnungen mit Kindern und Jugendlichen (2): Das Tönen, Hören und Gehört-Werden

Tönen, Hören und Gehört-Werden

Säuglinge können sich von Geburt an lautstark bemerkbar machen. Ihr stimmliches Ausdrucksvermögen ist trotz fehlender verbaler Sprache äußerst differenziert und vielfältig. Es reicht vom leisen, fast unhörbaren Wimmern bis zum herzhaften Schreien. Wenn sie nicht gehört werden oder nur auf bestimmte – angenehme – Töne Reaktion erfahren, können sie in depressiver Resignation verstummen oder versuchen, sich um jeden Preis aggressiv Gehör zu verschaffen.

Viele Kinder oder Erwachsene sind verstummt, sie sind entweder generell oder partiell sehr schweigsam, nämlich immer dann, wenn es um sie selbst geht. Manche Menschen können beruflich sehr lautstark sein und sich differenziert äußern, sind aber, wenn es um sie selbst, ihre Bedürfnisse, ihre Gefühle, ihr Privates oder ihr Intimes geht, unfähig, sich zu artikulieren.

Ein Mensch kann Worte sagen wie „Ich liebe dich“, oder ein Liebeslied singen und diese Töne haben mit seinem Erleben nichts zu tun. Das Erleben bleibt stumm. Der Unterschied wird deutlich, wenn wir es damit vergleichen, wie ein Baby seinen Hunger herausschreit, mit ganzem Körper und ganzer Seele. Säuglingsforscher haben gezeigt, dass Babys die Fähigkeit, etwas anderes zu äußern als sie wollen, erst erlernen müssen.

Wenn das eigene Erleben keinen Ton findet, kann dies auch daran liegen, dass das persönliche Erklingen von anderen Geräuschen übertönt wird. Gehört zu werden, scheint besonders selbstverständlich zu sein, ist jedoch für viele Menschen eine Frage von existenzieller Bedeutung. Wenn das eigene Tönen ins Leere ging oder geht, wenn die Klänge und Stimmen des Erlebens keine Resonanz fanden oder finden, ist dies eine schreckliche Erfahrung mit nachhaltigen Folgen.

Zum Tönen gehört auch das Hören. Viele Kinder werden überhört. Oder, wenn sie sich äußern, werden sie übertönt, so dass ihre eigene Stimme, ihr eigenes Tönen kein Gehör finden kann. Wer überhört wird – und das über lange Zeit – hört vielleicht auf, überhaupt zu tönen, und verstummt. Oder verzichtet darauf, eigenes von sich zu geben, und tönt nur die Klänge der anderen nach. Oder schreit nur noch, um sich verzweifelt Gehör zu verschaffen …

Tönen und Gehört werden, ja „erhört“ zu werden, ist ein existenzielles Bedürfnis der Kinder, der Menschen.

Udo Baer

Dr. phil. (Gesundheitswissenschaften), Diplom-Pädagoge, Kreativer Leibtherapeut AKL, Mitbegründer und Wissenschaftlicher Berater der Zukunftswerkstatt therapie kreativ, Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für soziale Innovationen (ISI) sowie des Instituts für Gerontopsychiatrie (IGP), Vorsitzender der Stiftung Würde, Mitinhaber des Pädagogischen Instituts Berlin (PIB), Autor

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