Was kann ich machen, wenn mein Kind Ticks hat?

von Udo Baer

Mir fallen zwei Stichworte ein, „Imitation“ und „Erregung“, die Spuren und Hinweise zur Beantwortung Ihrer Frage beinhalten. Sie sind die Expertin in der liebevollen Beobachtung Ihres Kindes und ich möchte Sie mit meinen Erfahrungen darin unterstützen, für Ihr Kind den stimmigen Weg aus den Ticks zu finden.

Zunächst zu „Imitation“: Kinder lernen durch Vorbilder in ihrer Lebensumwelt. Sie lernen die Sprache, die Sprachmelodie – und die Kommunikation mit Gestik und Mimik. Es könnte also sein, dass Ihr Kind ein Augenzwinkern oder ein Zucken im Gesicht ursprünglich „abgeguckt“ hat, z. B. von einem anderen Menschen, der eine typische, aber für Sie und andere Menschen vollkommen unauffälligen Mimik hat, Oder bei den überall präsenten Smileys oder Pokémons oder anderen das Kind beeindruckenden Spiel-, Kinderfilm- und sonstigen Wesen … Wahrscheinlich ist, dass das Kind diese mimischen Besonderheiten mit bestimmten Situationen verbindet, in denen es Beziehungs- und Gefühlsqualitäten erlebt hat wie Freundlichkeit, Ärger, Zugewandtheit, Ablehnung o. Ä., und misst ihnen, natürlich vollkommen unbewusst, besondere Bedeutung zu. Das mag dann dazu führen, dass sie sich sozusagen verselbständigen und in Ticks manifestieren.

Die Antwort darauf, was Sie tun können, ist: Spielen, tanzen, musizieren Sie mit Ihrem Kind. Kreieren Sie mit ihm gemeinsam spielerische Szenen, in denen verschiedene Gefühle ihren mimischen Ausdruck finden können, so dass sich das Repertoire Ihres Kindes „um die Ticks herum“ ganz selbstverständlich und ohne Beschämung erweitern kann. Das wird Ihnen beide viel Spaß machen. Und das ist so oder so das Beste, was passieren kann.       

Und nun zu meinem zweiten Stichwort „Erregung“: Jedem Menschen ist eine bestimmte Erregungskontur eigen, die sich im Laufe seines Lebens von Geburt an entwickelt hat. Ein Säugling kommt mit einer bestimmten Erregungs-Anlage, mit einem bestimmten Temperament, so könnte man es nennen, zur Welt, und ist in seiner sozialen Verbundenheit und seinem Angewiesensein auf andere Menschen besonders durchlässig für deren Erregungsniveau und die Atmosphäre in seiner Lebensumwelt. Auf diesem Hintergrund ist es verständlich, dass hinter solchen und ähnlichen Ticks, wie Sie es für Ihr Kind beschreiben, eine besonders hohe Erregungsbereitschaft eines Kindes stehen könnte, die zumindest innerlich für ihn sehr bedeutsam ist. Verfolgt man diese Spur, so stellt sich die Frage: Was erhöht die Erregung eines Kindes oder was hat früher, bevor die Ticks auftraten, erhöhte Erregungszustände hervorgerufen? Welche Erfahrungen mit anderen Menschen hat es gemacht – gehen wir einmal davon aus, dass die oben beschriebene Bereitschaft zur Imitation kein Erklärungsansatz ist –, die sein Erregungsniveau so erhöht haben, dass sie möglicherweise der Hintergrund für seine Ticks sind? Oft können wir Erwachsenen, können Sie als Eltern die Ursachen der Erregung, wenn die Ticks im frühen Alter beginnen, nicht mehr herausfinden. Aber es lohnt sich, danach zu suchen, ob und vor allem welche Auslöser es damals gegeben haben könnte. Versuchen Sie sich, so weit es Ihnen möglich ist, in die Perspektive des Kindes hineinzuversetzen. Bedenken Sie dabei, dass es um das subjektive Empfinden, um die subjektive Verarbeitung Ihres Kindes von Situationen und Erfahrungen geht, die sein Erregungsniveau erhöht haben, die es vielleicht als beschämend, spannungsgeladen oder gefährlich und bedrohlich erlebt hat, aus welchen Gründen auch immer. Viele Erregungszustände entstehen manchmal, aber nicht nur durch das Fehlverhalten anderer, sondern auch durch andere Umstände, die für das Kind bedrohlich wirken, aber von Ihnen als Eltern oder anderen Erwachsenen gar nicht als solche wahrgenommen wurden oder werden konnten. Wichtig aber ist und bleibt, dass Sie Ihr Kind wahr- und ernstnehmen in seinem Befinden und in seiner Art, diese möglicherweise für ihn schwierigen Situationen und Erfahrungen zu bewältigen – indem sich seine Empfindungen, seine Erregung und Anspannung in Ticks ausdrücken.

Gegen erhöhte Erregungszustände helfen Beruhigungsappelle nicht bzw. nicht nur. Selbstverständlich ist es prinzipiell für jedes Kind, ob mit oder ohne Ticks, gut, auf alles zu achten, was seine Erregung verringert und verringern kann. Selbstverständlich sollten sich erwachsene Menschen, werden Sie sich als Eltern darum bemühen, dem Kind  Erregung-dämpfende Umgebungen zur Verfügung zu stellen. Doch allein hilft dies in diesem Fall nicht. Entscheidend ist, dass die erhöhten Erregungen, wie gesagt, fast immer aus den Begegnungen mit anderen Menschen erwachsen sind. Deswegen liegt auch die Lösung, die Erregung zu verringern, vor allem in den heilsamen Begegnungen, im Dialog mit anderen Menschen, mit Ihnen, den Eltern an erster Stelle. Das heißt vor allem: gemeinsam tanzen, malen, singen, toben, ein bisschen verrückte Sachen machen, was immer das heißen mag, also gemeinsam spielen.

Im Spiel zeigt sich alles. Im Spiel kann sich alles verändern. Spielen Sie mit dem Kind. Dadurch entsteht eine Verbundenheit, entstehen neue Atmosphären, in der sich die Erregung ihres Kindes verringern kann und damit die Ticks ihren Hintergrund verlieren und, was ich fast noch wichtiger finde, ihre Bedeutung. So gibt es eine gute Chance, dass sich die Ticks im Laufe der Zeit verflüchtigen.

Udo Baer

Dr. phil. (Gesundheitswissenschaften), Diplom-Pädagoge, Kreativer Leibtherapeut AKL, Mitbegründer und Wissenschaftlicher Berater der Zukunftswerkstatt therapie kreativ, Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für soziale Innovationen (ISI) sowie des Instituts für Gerontopsychiatrie (IGP), Vorsitzender der Stiftung Würde, Mitinhaber des Pädagogischen Instituts Berlin (PIB), Autor

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