Was brauchen Kinder, wenn Eltern, Geschwister, Großeltern erkrankt sind? 4. Atmosphären

Udo Baer

Die anhaltende bzw. schwere Erkrankung eines Familienmitglieds verändert die Atmosphäre in der Familie. Nicht immer, aber häufig.

Eine junge Frau erzählte: „Als meine Mutter krank geworden ist, war ich elf Jahre alt. Da hat sich die Stimmung in der Familie völlig geändert. Es war alles bedrückt, alle gingen leise umher, wie auf Katzenpfoten. Wir Kinder wollten und durften nicht mehr laut sein, oft gar nicht mehr spielen.“

Ein Mann meinte: „Bei uns gab es in der Familie ein Klima der Überlastung. Alles war zu viel. Alle waren überfordert. Gegessen wurde nur noch schnell und hektisch. Der Einkauf machte keinen Spaß mehr. Auch das Kochen war nur noch eine Pflicht und Last. Und ich war als Kind auch überfordert. Ich wusste gar nicht, wodurch. Aber ich war durch alles überfordert. Wenn dann noch etwas anderes hinzukam, eine schlechte Note, ein Loch in der Hose oder Streit zwischen den Eltern, dann war Land unter, dann ging gar nichts mehr.“

Solche und ähnliche atmosphärische Veränderungen werden in vielen Familien durch schwere oder chronische Erkrankungen hervorgerufen. Atmosphären sind Stimmungsräume zwischen den Menschen und um uns Menschen herum. Sie sind schwer zu greifen. Insbesondere Kinder haben meist keine Worte dafür und können sie nicht verstehen. Natürlich sind die Sorgen um eine schwer erkrankte Person bedrückend. Und selbstverständlich ist die Pflege eines kranken Familienmitglieds eine hohe Anforderung und oft auch Überforderung. Man kann solche Atmosphären nicht einfach abstellen. Doch es ist wichtig, sie zu kennen und sich auch über die Auswirkungen Gedanken zu machen.

Wenn eine Atmosphäre bedrückend ist, dann ist es oft hilfreich, sich Hilfe zu holen und danach zu suchen, was entlastet. Vielleicht können Gespräche mit Menschen außerhalb der Familie entlasten. Wenn Familien überfordert sind, ist es gut, Hilfssysteme in Anspruch zu nehmen, Familienhilfen, Unterstützung von entfernteren Familienmitgliedern, von Nachbarn und anderen mehr.

Insbesondere gilt der Grundsatz: Gegen Druck hilft drücken. Wenn Menschen unter Druck sind, ist es nützlich und erleichternd, einen anderen nahestehenden Menschen zu bitten: Bitte drücke mich oder lass mich dich drücken. Sich gegenseitig zu drücken, sei es mit der Hand, sei es mit dem Oberkörper, entlastet, lässt Nähe spüren und verringert das Gefühl, unter Druck zu stehen.

Das ist wichtig, weil sonst die Kinder in einer Atmosphäre der Bedrückung und Überforderung aufwachsen und ihnen die Überforderung zur Selbstverständlichkeit wird oder die bedrückte Stimmung in sie einzieht und sich in ihnen einnistet. Als Jugendliche oder dann Erwachsene diese Atmosphäre oder Stimmung wieder loszuwerden oder zumindest zu verringern, fällt vielen schwer. Wer dann in einer Stimmung der Bedrückung oder Dauerüberforderung durchs Leben geht, wird nicht so glücklich, als wäre das nicht der Fall.

Andere Kinder einzuladen, mit den eigenen Kindern zu spielen, ist ebenfalls ein Weg, krankheitsbedingte Atmosphären in Familien zu verringern, sie zumindest zeitweilig zu „durchlüften“. Andere Kinder bringen oft andere Atmosphären und Stimmungen mit und ein anderer Wind weht durch die familiären Räumlichkeiten und damit auch durch die Menschen.

Udo Baer

Dr. phil. (Gesundheitswissenschaften), Diplom-Pädagoge, Kreativer Leibtherapeut AKL, Mitbegründer und Wissenschaftlicher Berater der Zukunftswerkstatt therapie kreativ, Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für soziale Innovationen (ISI) sowie des Instituts für Gerontopsychiatrie (IGP), Vorsitzender der Stiftung Würde, Mitinhaber des Pädagogischen Instituts Berlin (PIB), Autor

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