Von Udo Baer
Viele Kinder leiden darunter, dass sie mit Tabus belegt werden. Sie dürfen über etwas nicht reden, zum Beispiel, dass ihre Eltern straffällig geworden sind, dass der Vater die Mutter schlägt oder der Onkel Suizid begangen hat. Darüber soll nicht geredet werden, damit die Familie keine „Schande“ erfährt oder weil die Erwachsenen mit der Situation selbst nicht fertig werden und keine Worte finden. Also wird auch den Kindern verboten, darüber zu sprechen.
Solche Verbote entfalten eine unglaubliche Kraft und Macht. Viele Kinder, die darüber nicht sprechen dürfen, verstummen, aber nicht nur in dem Kontext des Themas, über das nicht gesprochen werden darf, sondern auch darüber hinaus. Ihre Ängste und Erregung werden durch das Zwangsverstummen eingesperrt und können sich in Mutismus, in der Unfähigkeit zu sprechen, zeigen. Manchmal brechen sie dann in aggressivem Verhalten hervor. Die Erregung sucht sich Wege, so, wie Wasser durch jedes Rinnsal fließt oder der Deckel eines Topfes mit kochendem Wasser abheben kann.
Mit diesen Kindern auf die Spur zu gehen, was ihre Aggressivität hervorruft und wie sie besser und angemessener mit sich und diesem Tabu umgehen können, ist schwierig. Die Kinder befinden sich in einem Loyalitätskonflikt. Sie dürfen ihre Eltern (meistens sind es die Eltern) nicht verraten. Sie haben ihnen versprochen, darüber nicht zu reden, und gleichzeitig leiden sie unter dem Zwang zu schweigen.
Manchmal begegnen die Kinder vertrauten Menschen, denen sie wenigstens einen Teil eines Tabus mitteilen können. Das erfolgt meist unter dem Siegel der Verschwiegenheit, mit dem Versprechen, dass es nicht weitererzählt werden darf. Das kann schon etwas entlasten. Gelingt dies, ist es gut, das auszubauen und weiter dem Kind eine Möglichkeit zu geben, wenigstens ein paar Worte zu einer Person zu finden.
Eine weitere Möglichkeit, die sehr erfolgreich ist, besteht darin, mit den Kindern zu malen. Wenn Kinder malen oder auch anderweitig spielen, spielen sie auch das, worüber sie nicht reden dürfen. Sie reden ja nicht darüber, aber sie teilen es auf irgendeine andere Art und Weise mit. Wenn wir Erwachsene nachfragen, kommen manchmal Andeutungen. Manchmal wird auch erzählt, manchmal geschwiegen. Aber wir sehen trotzdem etwas oder spüren etwas in der Art, wie sie ein Instrument benutzen, in ihren Bewegungen, im Rollenspiel etc. Das kann Kinder wenigstens ein wenig entlasten.
Mit den Eltern zu reden, ist oft sehr schwierig, da sie sich selbst dem Tabu verpflichtet haben und darüber nicht reden wollen. Aber es ist trotzdem richtig, den Eltern mitzuteilen, dass ihr Kind darunter leidet. Ob das eine Veränderung des Verhaltens bewirkt oder nicht, muss offenbleiben.
In jedem Fall gilt: Sprechtabus sind bei Kindern und Jugendlichen oft ein machtvoller Faktor, der sich hinter schrägem, auffallendem Verhalten und ihrem Leiden verbergen kann. Als Eltern oder andere Bezugspersonen sollten wir sie Kindern nicht auferlegen. Erwachsene sollten selbst Entlastung suchen, indem sie mit anderen Menschen ihre Sorgen und Ängste teilen.