Wie Pädagogik die Identität fördert

Alle Jahre wieder kocht die pädagogische Diskussion hoch, ob man Kinder mehr unterstützen und fördern soll oder eben stärkere Rahmenbedingungen setzen und sich ihnen mehr als ein Gegenüber verhalten soll. Diese Diskussion zwischen „harter“ und „weicher“ Pädagogik, zwischen „Unterstützung“ und „Grenzen“, ist so alt, wie es die Diskussion um Erziehung und Pädagogik gibt. Eine Orientierung in dieser Diskussion können wir finden, wenn wir uns damit beschäftigen, welchen Einfluss die Erziehung und Pädagogik auf die Identitätsentwicklung eines Kindes hat.

Der Wortstamm des Begriffes „Identität“ enthält das Wort „idem“ aus dem Lateinischen, das „derselbe“ bedeutet. Identität beinhaltet die Eigenheit, das Besondere eines Menschen. Stefan Jakobs nimmt sich als Stefan Jakobs wahr, egal ob er 7, 17 oder 70 Jahre alt ist, ob sich sein Gewicht, seine Frisur, seine Kleidung verändert, und er wird von anderen als Stefan Jakobs „identifiziert“.

Zur Entwicklung der Identität eines Kindes bzw. später eines Erwachsenen gehören sicherlich angeborene Elemente. Doch die Entwicklung der Besonderheiten eines Menschen und dessen was ihn unverwechselbar macht, ist ein Prozess der Entwicklung, zu dem z.B. auch „Identitätskrisen“ oder „Identitätsverluste“ gehören. Schon Mead betonte: “Identität entwickelt sich; sie ist bei der Geburt anfänglich nicht vorhanden, entsteht aber innerhalb des gesellschaftlichen Erfahrungs- und Tätigkeitsprozesses“ (Mead 1991, Seite 177). Daraus folgt: „In der Ausbildung einer eigenen Identität sind wir notwendig auf die Interaktionen, auf die Anerkennung durch andere angewiesen“ (Henning 2012, Seite 35).

Kindergarten und Schule sind so auch als wesentliche soziale Umgebungen anzusehen, die die Identitätsbildung beeinflussen. Dies kann fördernd oder hemmend geschehen. Kinder können in ihrer Identitätsentwicklung gestärkt oder geschwächt werden.

Nicht jede soziale Interaktion ist identitätsbildend. Baer/Frick-Baer haben das Tridentitätsmodell entwickelt (1996a und b, 2012): “Jeder Mensch braucht andere Menschen für seine Identitätsentwicklung und braucht dazu drei Qualitäten von Beziehungen: Menschen brauchen nährende, Menschen brauchen spiegelnde und Menschen brauchen Menschen, die ihnen gegenüber sind“. (Baer 2012, Seite 210).

Der Begriff Tridentität ist zusammengesetzt aus dem Lateinischen „tri“ für drei und „Identität“.

Im pädagogischen Kontext ist der Begriff der Nahrung sehr weit gefasst. Nahrung meint nicht nur stoffliche Ernährung, sondern auch geistige Nahrung, emotionale Nahrung, nährende soziale Erfahrungen usw.. Mit Spiegeln sind Rückmeldungen gemeint. Menschen und gerade Kinder erfahren sich selbst und ihr eigenes Werte- und Normensystem nicht nur aus sich selbst heraus. Sie brauchen Spiegel, sie brauchen Rückmeldungen von anderen Menschen, von Gleichaltrigen und von Erwachsenen. Und Menschen brauchen zur Identitätsentwicklung auch andere, die die Bedeutung eines Gegenübers haben. Gegenüber meint, dass jemand sich reibt, dass jemand sich streitet. Dass jemand Grenzen setzt und anders ist und anders sein akzeptiert.

Nimmt man diese drei Aspekte der Identitätsentwicklung im pädagogisch-erzieherischen Kontext ernst, dann erübrigen sich manche der Diskussionen zwischen einer pädagogischen Haltung, die mehr auf Förderung und einer, die mehr auf Grenzen setzt. Kinder brauchen für ihre Identitätsentwicklung alle drei Aspekte der Tridentität. Der Aspekt des Gegenübers umfasst oft, Grenzen zu setzen und sich mit den Kindern zu reiben. Der Aspekt des Nährens schließt die Förderung und Unterstützung ein. Kinder brauchen beides. Da darf es kein Entweder-Oder geben. Bei einzelnen Kindern in konkreten Situationen und Lebensphasen steht der eigene ein oder andere Aspekt jeweils im Vordergrund, doch gilt dies nicht für die gesamte Entwicklung. Das Spiegeln kommt für viele Kinder zu kurz. Auf die Bedeutung und Fallen und Unterstützungsmöglichkeiten der einzelnen Aspekte der Tridentität im pädagogisch-erzieherischen Kontext werde ich in späteren Beiträgen gesondert eingehen.

 

Lit:

Baer, U. (2012): Kreative Leibtherapie. Das Lehrbuch. Neukirchen-Vluyn

Baer, U. (1996a): Frageleitfaden Tridentität. In: Sozialtherapie. Heft 16, Münster

Baer, U. (1996): Tridentität – Identitätsbildung und Therapie. In: Sozialtherapie. Heft 16, Münster

Henning, T. (2012): Personale Identität und persönliche Identitäten. – Ein Problemfeld der Philosophie. In: Petzold, H. (Hrsg.) (2012): Identität. Wiesbaden

Mead, H. G. (1934/1977): Geist, Identität und Gesellschaft. Frankfurt a. M.

 

 

Udo Baer

Dr. phil. (Gesundheitswissenschaften), Diplom-Pädagoge, Kreativer Leibtherapeut AKL, Mitbegründer und Wissenschaftlicher Berater der Zukunftswerkstatt therapie kreativ, Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für soziale Innovationen (ISI) sowie des Instituts für Gerontopsychiatrie (IGP), Vorsitzender der Stiftung Würde, Mitinhaber des Pädagogischen Instituts Berlin (PIB), Autor

Dieser Beitrag hat 3 Kommentare

  1. Alexandra

    Vielen Dank für diesen wichtigen Artikel. In deutliche Worte gefasst und logisch erklärt, macht er die Wichtigkeit von Respekt und Würde gegenüber Kindern klar.

  2. Ria-Christine Hübner

    Vielen Dank für diesen Artikel, ein interessanter Aspekt das Modell Tridentität.

    Ria in der Erzieherinnenausbildung zum Thema „Förderung der Identitätsbildung von Kindern und Jugendlichen“ für das Fach EB unterwegs

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