„Spätzünder?“

Ein Beitrag von Dr. Udo Baer

Vor kurzem erfreute ich mich daran, wie toll ein kleines Mädchen schon durch den Hof lief und ihre Welt zu entdecken versuchte. Ich sagte der Mutter, wie wunderbar ich es finde, dass ihre Tochter laufen könne und mutig immer wieder auf`s Neue losgehe. Sie freute sich auch, entgegnete mir dann aber in einem entschuldigenden Tonfall: „Sie ist aber ein Spätzünder. Sie läuft ja jetzt erst, mit 16 Monaten …“

Viele Eltern haben ein schlechtes Gewissen, weil ihre Kinder nicht den vorgegebenen Zeiten entsprechen, wann sie angeblich eine Fertigkeit erworben haben müssen. Diesen Druck können sie sich ersparen. Mit 16 Monaten können rund 90% der Kinder laufen. Ja und? Sind die anderen 10% deshalb schlechtere Kinder? Oder deren Eltern schlechtere Eltern? Nein, sind sie nicht. Monatsangaben für Entwicklungsschritte sind ungefähre Orientierungen mit viel Spielraum nach vorn und nach hinten. Mehr nicht. Kinder bestimmen, wann sie auf Töpfchen gehen, wann sie sprechen, wann sie laufen.

Jedes schlechte Gewissen in dieser Hinsicht ist unnötig, jeder Druck auf das Kind oder sich selbst ist fatal. Streichen Sie das Wort „Spätzünder“! Ein afrikanisches Sprichwort sagt: Ein Grashalm wächst nicht schneller, wenn man daran zieht.

Udo Baer

Dr. phil. (Gesundheitswissenschaften), Diplom-Pädagoge, Kreativer Leibtherapeut AKL, Mitbegründer und Wissenschaftlicher Berater der Zukunftswerkstatt therapie kreativ, Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für soziale Innovationen (ISI) sowie des Instituts für Gerontopsychiatrie (IGP), Vorsitzender der Stiftung Würde, Mitinhaber des Pädagogischen Instituts Berlin (PIB), Autor

Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

  1. Stefanie Janßen

    Im Gegenteil: wenn man dran zieht, kann er reißen. Wenn man ihm Zeit läßt, kann er stark werden. Ich denke da an unseren Sohn, der in einer Not-Op zur Welt kam, 8 Wochen zu früh und nichts in der “ vorgegebenen Zeit“ konnte. Das Einzige, was er brauchte war ZEIT und Zutrauen.

  2. Behlau Annette

    Lieber Udo und liebe Gabriele
    Ich finde eure Themen ganz toll und freue mich über eure Engagement für Kinder. Mein Wunsch an die Kinderwürde ist es euch Pflege und Adoptivkinder an zu sehen. Es sind entwurzelte Kinder mit zwei Müttern und zwei Vätern. Ich würde sagen, ihnen ist der Boden unter den Füßen weg gezogen worden.
    Ganz liebe Grüße Annette
    P.S. meine Adoptiv und Pflegekinder sind jetzt 35,31 und 23 Jahre alt. Ich wünsche mir mehr Menschen, die mit dieser Situation gut umgehen können. Sie brauchen Beratung und Hilfen. Eltern wie Kinder.
    Auch diese Kinder sind Spätzünder im Leben

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