Warum laufen Kinder weg?

Ein Kind, 6 Jahre alt, läuft häufig weg. Aus der Kita, im Supermarkt, aus dem Garten … Die Eltern und die Erzieher*innen können es sich nicht erklären und sind ratlos. Nach meinen Erfahrungen kann es verschiedene Gründe geben, denen nachzugehen sich lohnt.

Die erste Frage, die oft gestellt wird, lautet: „Wovor läuft das Kind weg?“ Manchmal vor Prügeln, vor einem Leistungsdruck, den es nicht erfüllen kann, vor einer möglichen Trennung der Eltern usw. Vielleicht ist die Welt des Kindes unerträglich und es sucht eine andere, bessere Welt.

Wenn es auf die Frage, wovor das Kind wegläuft, keine Antworten gibt, sollte die nächste gestellt werden: „Wohin läuft das Kind?“ Manchmal ist es neugierig und will seine Neugier mehr ausleben, als es das bislang kann. Manchmal sucht es einen Ort der Ruhe. Manchmal andere Menschen, die ihm zuhören … Ein Junge, 12 Jahre als, schwänzte oft die Schule und zog durch die Straßen. Ziellos. Eines Tages schrieb er einen Zettel: „Bin entführt worden. Keine Polizei!“ Er nahm sich 10 Euro aus der Geldbörse seiner Mutter und fuhr mit dem Bus zur nächsten größeren Stadt. Dort kaufte er sich ein Comic-Heft, setzte sich in den Bahnhofs-Wartesaal und las, bis er abends von der Polizei gefunden wurde …

Häufig laufen Kinder aus dem einzigen Grund weg: damit sie gesucht und gefunden werden! Oft haben sie viel Leere erlebt, Eltern oder andere konnten sich nicht genug kümmern, die Kinder fühlten sich unbeachtet und „egal“. Wenn sie wegliefen, wurden die Erwachsenen auf sie aufmerksam und suchten sie. Sie laufen weg, um gefunden zu werden. Was diesen Kindern hilft, liegt auf der Hand: Bewegung und Beachtung.

Gelegentlich haben Kinder, die oft weglaufen, in und mit der Familie Erfahrungen häufiger Umzüge und plötzlicher Fluchtbewegungen machen müssen. Kontinuität gibt es kaum, und wenn, dann nur zeitweilig. Wegzugehen ist normal, steckt ihnen „im Blut“, ist einverleibt … Diese Kinder brauchen Halt und das Angebot kontinuierlicher Beziehungen.

Der Frage nachzugehen, was ein Kind bewegt, wegzulaufen, ist der erst Schritt, um dem Kind zu helfen. Je nach dem Beweggrund des Weglaufens sind unterschiedliche Wege der Hilfestellung sinnvoll und notwendig.

Udo Baer

Dr. phil. (Gesundheitswissenschaften), Diplom-Pädagoge, Kreativer Leibtherapeut AKL, Mitbegründer und Wissenschaftlicher Berater der Zukunftswerkstatt therapie kreativ, Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für soziale Innovationen (ISI) sowie des Instituts für Gerontopsychiatrie (IGP), Vorsitzender der Stiftung Würde, Mitinhaber des Pädagogischen Instituts Berlin (PIB), Autor

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