Es war einmal ein Projektkind

Von Claus Koch

Es war einmal ein Projektkind. Seine Mutter sagte zu ihm: „Wenn du einmal älter bist, sollst du genauso schön und erfolgreich sein wie ich!“ Der Vater sagte: „Wenn du einmal älter bist, dann wirst du meine Firma übernehmen und viel Geld verdienen.“ Da ging das Projektkind hinaus in die Welt und sagte allen Kindern, denen es begegnete: „Wenn ich einmal älter bin, werde ich genauso schön und erfolgreich sein wie meine Mama und genauso reich wie mein Papa und ein sorgenfreies Leben haben.“ Auf seiner Wanderschaft begegnete das Kind vielen anderen Kindern, großen und kleinen. Eines saß vor einem Teich und zeigte dem Kind die bunten Fische und Frösche, die dort fröhlich herumschwammen. Ein anderes spielte im Wald Pirat und zeigte ihm, wie man in die Krone eines Baumes klettert, um von dort aus das Meer und mit Gold beladene Schiffe zu sehen. Und wieder ein anderes saß bei sich zu Hause am Tisch und schrieb ein Gedicht. „Die werden nie so werden wie ich“, dachte sich das Kind, „nämlich schön, reich und erfolgreich.“

Viele Jahre vergingen. Das Kind, das nun kein Kind mehr war, kehrte in das Haus seiner Eltern zurück. Aber es war leer und verlassen. Sein Vater hatte seine Firma und das Haus verkaufen müssen. Die Mutter wohnte schon lange nicht mehr mit ihm zusammen. Das Gras im Garten stand hoch und die Beete waren voller Unkraut und verwildert. Die roten Beeren von den Büschen hatten die Vögel aufgegessen. Das Kind, das kein Kind mehr war, ging zum Gartenteich, der schon fast zugewachsen war, und freute sich über die Fische und Frösche, die dort eine neue Heimat gefunden hatten. Es kletterte auf den hohen Baum, unter dem es früher immer gespielt hatte, und es sah das Meer und ein mit Gold beladenes Segelschiff im Sonnenuntergang. Als es später dunkel wurde, ging das Kind, das jetzt kein Kind mehr war, zurück ins Haus zurück und schrieb am alten Esstisch ein Gedicht.

Claus Koch

Dr. phil. (Psychologie), Diplompsychologe. Bis Juli 2015 Verlagsleiter für den Bereich Sachbuch und Elternratgeber beim Beltz Verlag in Weinheim. 2015 gründete er zusammen Udo Baer das „Pädagogische Institut Berlin“ (PIB). Jahrelange wissenschaftliche Tätigkeit mit dem Schwerpunkt Entwicklungspsychologie des Kindes und Jugendlichen unter psychoanalytischen und bindungstheoretischen Gesichtspunkten, u.a. mit einem Lehrauftrag an der Universität Bielefeld. Publizist und Autor. Zahlreiche Vorträge, Buchveröffentlichungen und Artikel in Fachzeitschriften. Vorstandsmitglied des „Archiv der Zukunft“ (AdZ).

Schreiben Sie einen Kommentar